Hildegard von Bingen (* 1098 in Bermersheim vor der Höhe (Ort der Taufkirche) oder in Niederhosenbach (damaliger Wohnsitz des Vaters Hildebrecht von Hosenbach); † 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg bei Bingen am Rhein) war eine deutsche Benediktinerin, Äbtissin, Dichterin, Komponistin und eine bedeutende natur- und heilkundige Universalgelehrte.
Hildegard von Bingen gilt als erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters. Ihre Werke befassen sich unter anderem mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie. Sie war auch Beraterin vieler Persönlichkeiten. Von ihr ist ein umfangreicher Briefwechsel erhalten geblieben, der auch deutliche Ermahnungen gegenüber hochgestellten Zeitgenossen enthält, sowie Berichte über weite Seelsorgereisen und ihre öffentliche Predigertätigkeit.
In der römisch-katholischen Kirche wird Hildegard als Heilige verehrt. Papst Benedikt XVI. dehnte am 10. Mai 2012 ihre Verehrung auf die Weltkirche aus[1] und erhob sie am 7. Oktober 2012 zur Kirchenlehrerin (Doctor Ecclesiae universalis).[2] Auch in der anglikanischen, der alt-katholischen und der evangelischen Kirche wird mit Gedenktagen an sie erinnert. Ihre Reliquien befinden sich in der Pfarrkirche von Eibingen.
Hildegard von Bingen wurde als Tochter der Edelfreien Hildebert und Mechtild geboren. Weder der genaue Geburtstag noch der Geburtsort werden von ihr oder zeitgenössischen Biografen genannt. Das wahrscheinliche Geburtsdatum lässt sich anhand ihrer Schrift Scivias näher eingrenzen auf die Zeit zwischen dem 1. Mai 1098 und dem 17. September 1098. Ausgedehnter Besitz der Familie Hildegards aus Bermersheim vor der Höhe (bei Alzey), der in ihre spätere Klostergründung einging und der in einem Dokument ein Hiltebertus von Vermersheim und seinem Sohn Drutwin (als Name von Hildegards Bruder bekannt) erwähnt werden, legten lange Zeit eine Geburt oder zumindest Kindheit auf dem Gut Bermersheim nahe.[3] Nach neueren wissenschaftlichen Forschungsergebnissen aus dem Ende des letzten Jahrtausends stammt Hildegard von dem in einer Urkunde von 1112 genannten Hildebert (Hildebrecht) von Hosenbach ab. Hildebert wird im Jahr des Eintritts der Hildegard als Inkluse am Kloster Disibodenberg in einer Urkunde benannt, die den Disibodenberg betrifft.[4] Nach Heinzelmann ist Bermersheim als Geburtsort unwahrscheinlich, da sich zum Zeitpunkt der Geburt von Hildegard dort kein Adelssitz mehr befand.
Nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung stammte Hildegard von Bingen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Familie der Edelfreien von Hosenbach. Sie wurde 1098 als 10. Kind dieser Adelsfamilie geboren. Ihr Vater war demnach Hildebert (Hildebrecht) von Hosenbach, dem heutigen Niederhosenbach bei Idar-Oberstein und ihre Mutter Mechthild von Merxheim. Es ist demnach davon auszugehen, dass Hildegard am Stammsitz ihrer Familie im heutigen Niederhosenbach geboren wurde und dort die ersten 8 Jahre ihres Lebens verbrachte.[4]
Diese Auffassung wurde auch auf dem Symposium „Hildegard und ihre Verwandtschaft“ 2001 in Birkenfeld/Nahe auf Einladung des damaligen Landrats unter Teilnahme von Josef Heinzelmann und weiterer maßgeblicher Historiker bestätigt.
Als zehntes Kind der Eltern sollte sie ihr Leben der Kirche widmen (ein Zehnter an Gott).[5]
„[…] und meine Eltern weihten mich Gott unter Seufzern, und in meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, daß meine Seele erzitterte […]“
Hildegard wuchs auf dem väterlichen Herrenhof auf[7] und wurde in ihrem achten Lebensjahr, wie damals üblich, von ihren Eltern als Oblatin dargebracht und mit der acht Jahre älteren Jutta von Sponheim in religiöse Erziehung gegeben. Jutta hatte bereits zwei Jahre zuvor im Alter von 14 Jahren von dem Mainzer Erzbischof Ruthard die Jungfrauenweihe empfangen. Für drei Jahre übernahm diese Erziehung die geweihte Witwe Uda von Göllheim.
„In meinem achten Jahr aber wurde ich zu geistlichem Leben Gott dargebracht (oblata) und bis zu meinem fünfzehnten Jahr war ich jemand, der vieles sah und mehr noch einfältig aussprach, so daß auch die, welche diese Dinge hörten, verwundert fragten, woher sie kämen und von wem sie stammten.“
Am 1. November 1112[8] wurde sie mit Jutta, von da an ihre Lehrmeisterin, und einer dritten jungen Frau in einem Inklusorium an oder in dem seit 1108 von Benediktinermönchen bewohnten Kloster Disibodenberg eingeschlossen. Während Jutta an diesem Tage vor Abt Burchard (1108–1113) auch ihre Profess ablegte, tat dies Hildegard später vor dem Bischof Otto von Bamberg, der von 1112 bis 1115 den inhaftierten Mainzer Erzbischof Adalbert vertrat.[9][10]
Nach dem Tode Juttas in der mittlerweile zum Kloster gewachsenen Klause wurde Hildegard 1136 zur Magistra der versammelten Schülerinnen gewählt. Mehrfach kam es zu Auseinandersetzungen mit Abt Kuno von Disibodenberg, weil Hildegard die Askese, eines der Prinzipien des Mönchtums, mäßigte. So lockerte sie in ihrer Gemeinschaft die Speisebestimmungen und kürzte die durch Jutta festgelegten, sehr langen Gebets- und Gottesdienstzeiten. Offener Streit brach aus, als Hildegard mit ihrer Gemeinschaft ein eigenes Kloster gründen wollte. Die Benediktiner von Disibodenberg stellten sich dem entschieden entgegen, da Hildegard deren Kloster Popularität verschaffte.
Bei der Leitung ihrer Anhängerschaft und zur Begründung ihrer geschriebenen Texte berief sich Hildegard auf Visionen, die nach ihrer eigenen Darstellung 1141 unwiderstehlich stark wurden. Unsicher über die göttliche Herkunft ihrer Visionen, suchte Hildegard in einem aufgewühlt klingenden Brief Unterstützung bei Bernhard von Clairvaux, der sie beruhigte, zugleich aber vorsichtig antwortete:
„Wir freuen uns mit dir über die Gnade Gottes, die in dir ist. Und was uns angeht, so ermahnen und beschwören wir dich, sie als Gnade zu erachten und ihr mit der ganzen Liebeskraft der Demut und Hingabe zu entsprechen. […] Was können wir übrigens noch lehren oder wozu ermahnen, wo schon eine innere Unterweisung besteht und eine Salbung über alles belehrt?“[11]
Die beiden Briefe sind trotz gegenseitiger Hochschätzung die einzige Korrespondenz, die zwischen Hildegard und Bernhard stattfand. Da der Brief Bernhards die Erwartung Hildegards bzw. ihres Umfeldes nicht ganz erfüllte, wurde er für die Aufnahme in den Rupertsberger Riesenkodex abgeändert. Daneben wird in der neueren Forschung darüber gestritten, ob dieses kurze Zitat, das wie ein höfliches Ausweichmanöver gelesen werden kann, nicht genauso fiktiv ist wie die Episode über den vergeblichen Besuch Bernhards in Rupertsberg, bei dem Hildegard leider nicht anwesend sein konnte. Jedenfalls hat seine Anerkennung – ob fiktiv oder nicht – sehr zur Anerkennung ihrer historischen Persönlichkeit beigetragen.[12]
Dennoch begann Hildegard 1141 in Zusammenarbeit mit Propst Volmar von Disibodenberg und ihrer Vertrauten, der Nonne Richardis von Stade, ihre Visionen und theologischen wie anthropologischen Vorstellungen in Latein niederzuschreiben. Da sie selbst die lateinische Grammatik nicht beherrschte, ließ sie alle Texte von ihrem Schreiber (letzter Sekretär: Wibert von Gembloux) korrigieren. Ihr Hauptwerk Scivias („Wisse die Wege“) entstand in einem Zeitraum von sechs Jahren. Dieses Buch enthält 35 Miniaturen. Diese Miniaturen theologischen Inhalts[13] sind äußerst kunstvoll in leuchtenden Farben gemalt und dienen hauptsächlich zur Veranschaulichung des komplizierten und tiefsinnigen Textes.[14] Die Originalhandschrift gilt seit Ende des Zweiten Weltkrieges als verschollen, in der Abtei St. Hildegard in Eibingen befindet sich eine illuminierte Kopie aus dem Jahr 1939.
Während einer Synode in Trier bekam Hildegard 1147 schließlich von Papst Eugen III. die Erlaubnis, ihre Visionen zu veröffentlichen. Diese Erlaubnis stärkte auch ihre politische Bedeutung. Darüber hinaus stand sie mit vielen geistlichen und weltlichen Mächtigen in Korrespondenz. Hildegard hatte zahlreiche Visionen. 1141 erlebte sie eine Erscheinung, die sie als Auftrag Gottes verstand, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen. Unsicher darüber, was diese Vision bedeutete, wurde Hildegard krank. In der Niederschrift ihrer Visionen, Scivias („Wisse die Wege“), schreibt Hildegard:
„Ich aber, obgleich ich diese Dinge hörte, weigerte mich lange Zeit, sie niederzuschreiben – aus Zweifel und Missglauben und wegen der Vielfalt menschlicher Worte, nicht aus Eigensinn, sondern weil ich der Demut folgte und das so lange, bis die Geißel Gottes mich fällte und ich ins Krankenbett fiel; dann, endlich bewegt durch vielerlei Krankheit […], gab ich meine Hand dem Schreiben anheim. Während ich's tat, spürte ich […] den tiefen Sinn der Heiligen Schrift; und ich erhob mich so selbst von der Krankheit durch die Stärke, die ich empfing und brachte dies Werk zu seinem Ende – eben so – in zehn Jahren. […] Und ich sprach und schrieb diese Dinge nicht aus Erfindung meines Herzens oder irgend einer anderen Person, sondern durch die geheimen Mysterien Gottes, wie ich sie vernahm und empfing von den himmlischen Orten. Und wieder vernahm ich eine Stimme vom Himmel, und sie sprach zu mir: Erhebe deine Stimme und schreibe also!“
Hildegards sehr bildliche Beschreibungen ihrer körperlichen Zustände und ihrer Visionen interpretiert der Neurologe Oliver Sacks als Symptome einer schweren Migräne, speziell aufgrund der von ihr geschilderten Lichterscheinungen (Auren). Sacks und andere moderne Naturwissenschaftler vermuten, dass Hildegard an einem Skotom litt, das diese halluzinatorischen Lichtphänomene hervorrief.[15]
Zwischen 1147 und 1150 gründete Hildegard das Kloster Rupertsberg auf dem Rupertsberg bei der Mündung der Nahe in den Rhein. Die erhaltenen Kunstgegenstände, vor allem das gold-purpurne Antependium, zeugen vom ehemaligen Reichtum Rupertsbergs. Bemerkenswert ist, dass Meister Mathis Gothart Nithart gen. Grünewald dieses Kloster Rupertsberg oberhalb der Nahe als Vorlage für die Klosterkirche im romanisch-frühgotischen Stil genommen hat, die im Hintergrund der „Weihnachtstafel“ des Isenheimer Altars (um 1516) zu sehen ist; das belegt ein Vergleich mit den Kupferstichen von Daniel Meisner[16] und Matthäus Merian.[17] Für diese Annahme spricht auch, dass Grünewald sich um 1510 in Bingen aufgehalten und auf der dortigen Burg Klopp[18] als „Wasserkunstmacher“ gearbeitet hat.
Bereits 1151 kam es zu neuen Auseinandersetzungen mit geistlichen Amtsträgern: Der Mainzer Erzbischof Heinrich und sein Bremer Amtsbruder Hartwig von Stade verlangten, dass Richardis von Stade das neue Kloster verlasse. Richardis war die Schwester des Bremer Erzbischofs und sollte Äbtissin des Klosters Bassum werden. Hildegard verweigerte zunächst die Freistellung ihrer engsten Mitarbeiterin und schaltete Eugen III. ein. Dennoch setzten sich die beiden Erzbischöfe schließlich durch, und Richardis verließ das Kloster Rupertsberg.
Nach dieser Einigung bestätigte Erzbischof Heinrich schließlich 1152 die Überschreibung der durch Hildegards Ruf sehr umfangreich gewordenen Klostergüter. Dieser ansteigende Reichtum wirkte sich auch auf das Leben der Gemeinschaft aus und rief Kritik hervor. So griffen mehrere Geistliche, aber auch Leiterinnen anderer Gemeinschaften, zum Beispiel die Meisterin Tenxwind von Andernach[19], Hildegard an, weil ihre Nonnen entgegen dem evangelischen Rat der Armut zu Festgottesdiensten luxuriös geschmückt erschienen und nur Frauen aus adligen Familien in Rupertsberg aufgenommen wurden.[20] Als standesbewusste Adlige rechtfertige Hildegard den Grundsatz, dass nur adelige Frauen in ihr Kloster aufgenommen werden konnten, mit dem Hinweis, niemand bringe auch seinen ganzen Viehbesitz (Rinder, Esel, Schafe und Böcke) in einem einzigen Stall unter.[21] Da die Zahl der Nonnen im Rupertsberger Kloster ständig zunahm, erwarb Hildegard 1165 das leerstehende Augustinerkloster in Eibingen und gründete dort ein Tochterkloster, in das Nichtadelige eintreten konnten, und setzte dort eine Priorin ein. Hildegard von Bingen starb am 17. September 1179 im 82. Lebensjahr.
Die Bedeutung Hildegards von Bingen lässt sich schlecht in einzelne Kategorien zwängen, da sich das Weltbild seit der Aufklärung stark verändert hat. In ihrer Zeit waren bedeutende Personen Universalgelehrte. Hildegard von Bingen gilt allgemein als Person, die durch eigene Denkansätze neue Impulse setzte und damit einen umfassenden Blickwinkel ermöglichte.
Ihr selbstbewusstes und charismatisches Auftreten führte zu ihrer großen Bekanntheit. Sie predigte als erste Nonne öffentlich dem Volk die Umkehr zu Gott (u. a. auf Predigtreisen nach Mainz, Würzburg, Bamberg, Trier, Metz, Bonn und Köln). Aus einem in seiner Echtheit umstrittenen Brief des Kaisers Barbarossa an sie, der im Wiesbadener Riesenkodex überliefert ist, wird geschlossen, dass dieser sich mit ihr als Beraterin in der Ingelheimer Kaiserpfalz getroffen habe. Auch im hohen Alter unternahm sie noch Reisen zu verschiedenen Klöstern.
Wegen ihres Glaubens und ihrer Lebensart wurde sie für viele Menschen zur Wegweiserin. Schon zu ihren Lebzeiten nannten viele sie eine Heilige. Hildegard begründete diese Auffassung, indem sie sich für ihre theologischen und philosophischen Aussagen immer wieder auf Visionen berief. Damit sicherte sie ihre Lehren gegen die Lehrmeinung ab, dass Frauen aus eigener Kraft nicht zu theologischen Kenntnissen in der Lage seien. Sie selbst bezeichnete sich als „ungebildet“. Unter anderem griff sie auf der Seite des Papstes in die theologische Auseinandersetzung um die Wandlung des Altarsakraments ein.
Ihre moralische Lehre faszinierte zu ihrer Zeit nicht nur die Nonnen, sondern auch Mönche, Adlige und Laien. Mit starkem Selbstbewusstsein setzte sie ihre Interessen gegen andere durch, sowohl aus Überzeugung als auch zur Durchsetzung politischer Ziele (z. B. bei der Bestattung eines begüterten Exkommunizierten oder dem Abstreiten der Besitzrechte des Disibodenberges).
Vor allem sind es die drei theologischen Werke, die ihren damaligen Ruhm begründeten. Ihr Hauptwerk Scivias („Wisse die Wege“) ist eine Glaubenslehre, in der Weltbild und Menschenbild untrennbar mit dem Gottesbild verwoben sind. Die philosophisch-theologische Gesamtschau, die in allen wesentlichen Punkten der Kirchenlehre entspricht, wird in 26 Visionen dargestellt. Papst Eugenius III. bestätigte 1147 die Authentizität des ersten Teils der Scivias und erlaubte Hildegard, öffentlich zu predigen. Damit ist Hildegard die erste Frau, die eine päpstliche Bestätigung als Autorität in theologischen Fragen erhielt.[22]
Das zweite Visionswerk Liber vitae meritorum („Buch der Lebensverdienste“) könnte man als visionäre Ethik beschreiben. In ihm werden 35 Laster und Tugenden gegenübergestellt. Das dritte Buch Liber divinorum operum („Buch der göttlichen Werke“) ist Hildegards Schau über Welt und Mensch. Sie beschreibt hier die Schöpfungsordnung gemäß der mittelalterlichen Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung als etwas, in dem Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die Verantwortung des Menschen gestellt sind. Damit schuf sie auch eine frühe Form des Homo signorum.
Ebenfalls zum theologischen Gesamtwerk zu zählen ist ihre umfangreiche Korrespondenz mit hohen geistlichen und weltlichen Würdenträgern (darunter auch Bernhard von Clairvaux), die in ca. 300 Schriftstücken erhalten geblieben ist. Darin zeigt sie ihren außergewöhnlich starken Charakter und Gottesglauben. Für ihre Zeit wirken ihre offenen Worte und Ermahnungen, die sie gegenüber König und Papst führte, besonders bemerkenswert. Ihre Herkunft sowie die Besetzung höchster Kirchenämter durch Verwandte (u. a. ihr Bruder Hugo als Domkantor von Mainz) verschafften ihr den nötigen Einfluss, um angehört zu werden.
Hildegard hat zwischen 1150 und 1160 zwei natur- und heilkundliche Werke verfasst und gilt als „Deutschlands erste schriftstellernde Ärztin“.[23] Im Gegensatz zu den visionären Schriften gibt es keine Abschriften, die auf Hildegard selbst bzw. ihre unmittelbare Umgebung zurückgehen. Alle erhaltenen 13 Textzeugen (Handschriften) sind erst 100 Jahre nach ihr oder noch später (vom 13. bis 15. Jh.) entstanden, so dass teilweise ihre Autorschaft angezweifelt wurde. In den zweifellos ihr zuzuschreibenden Werken wird jedoch eine Schrift zur Naturkunde mit dem Titel Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum (Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe) erwähnt. Damit könnte die große Schrift über die Eigenschaften und Wirkungen von Kräutern, Bäumen, Edelsteinen, Tieren und Metallen gemeint sein, die später unter der Bezeichnung Physica gedruckt wurde. Ein zweites Werk, Causae et curae („Ursachen und Behandlungen“) genannt, ist nur in einer einzigen Handschrift überliefert. Hier handelt es sich um eine allgemeine Darstellung der Schöpfung, der Natur und insbesondere der menschlichen Natur. Im zweiten Teil ist von einzelnen Krankheiten und ihrer Behandlung sowie von der Diagnostik die Rede. Einige Autoren des 15. Jahrhunderts übernahmen einzelne Textstellen aus Hildegards, sich im Rahmen der damaligen Medizintheorie (Humoralpathologie) bewegender Physica (etwa im Gart der Gesundheit[24] und im Kochbuch Meister Eberhards[25]).[26] Der Begriff „Hildegard-Medizin“ wurde als Marketing-Begriff erst ab 1970 eingeführt.[27][28]
Die Leistung Hildegards liegt unter anderem darin, dass sie das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin zusammenbrachte und (wie schon zuvor ein Innsbrucker Kräuterbuch) die deutschen Pflanzennamen[29] nutzte. Sie entwickelte vor allem aber eigene Ansichten über die Entstehung von Krankheiten, Körperlichkeit und Sexualität. Eigene medizinische Verfahren entwickelte sie nicht, sondern trug lediglich bereits bekannte Behandlungsmethoden aus verschiedenen Quellen zusammen. Hildegards Krankheitstheorie ist der antiken Viersäftelehre sehr ähnlich, nur mit abweichenden Bezeichnungen.[30] Die Kräuterkunde aus Causae et Curae beinhaltet viele sehr direkte Anweisungen, die jeweils nach Symptomen geordnet sind. Sie sind daher auch für medizinische Laien gut zu gebrauchen. So heißt es beispielsweise: „Vom Tränen der Augen: Wer nässende Augen hat, wie wenn sie tränten, soll ein Feigenblatt pflücken, das in der Nacht vom Tau gründlich benetzt worden ist, wenn die Sonne es an seinem Zweige bereits erwärmt hat, und so warm auf seine Augen legen, um deren Feuchtigkeit einzuschränken…“ oder „Wenn das Gehör eines Menschen von irgendeinem Phlegmastoff oder einer anderen Art des Krankseins zugrunde gerichtet wird, nimmt man weißen Weihrauch, und lass aus ihm über lebendigem Feuer Rauch aufsteigen und lass diesen Rauch in das sich obdurierende Ohr aufsteigen…“.
Der Gedanke der Einheit und Ganzheit ist auch ein Schlüssel zu Hildegards natur- und heilkundlichen Schriften. Diese sind ganz davon geprägt, dass Heil und Heilung des kranken Menschen allein von der Hinwendung zum Glauben, der allein gute Werke und eine maßvolle Lebens-Ordnung hervorbringe, ausgehen könne. In diesen Punkten unterscheidet sich Hildegard stark von den eher rationalen Werken der übrigen Klostermedizin. So heißt es bei Hildegard: „Drei Pfade hat der Mensch in sich, in denen sich sein Leben tätigt: die Seele, den Leib und die Sinne“. Nur wenn diese drei Aspekte der Lebensführung ausgewogen beachtet werden, bleibt der Mensch gesund.
In den Schriften von Hildegard, insbesondere in „Causae et Curae“, werden zwischen Texten zu Themen wie „Nasenbluten“ oder „Aderlass“ in der gleichen Nüchternheit auch Themen wie „Von der Empfängnis“, „Von der geschlechtlichen Begierde“, oder „Vom nächtlichen Samenerguss“ abgehandelt. Sie beschreibt sehr detailliert die erotischen und sexuellen Handlungen.[31]
Der theologische Hintergrund ordnet Begierde und Sexualität in den Bereich des göttlichen Willens ein. Ungeachtet der traditionellen Verurteilung der Sexualität an anderen Stellen ihrer Schriften wird die sexuelle Lust als göttliche Kraft interpretiert, ausdrücklich erkennt sie im „Streben der Begierde und der Zeugungskraft des Mannes“ ein Zeichen der „Liebeskraft Gottes“.[32]
Auffallend ist die fast gleichwertige Beteiligung beider Geschlechter am Zeugungsakt. Zur Zeugung könne es nur kommen, wenn der Mann „mit einem anderen lebenden, fühlenden Geschöpf in Lust verbunden“ sei. Erst durch die Vermischung des männlichen Samens mit dem weiblichen Blut vollende sich die Zeugung – Mann und Frau würden „ein Fleisch“.[33]
Hildegard vergleicht die männliche Lust mit einem „Schiff in großen Wellen“, im „heftigen Sturmwinde …, so gefährdet, dass es manchmal kaum standhalten kann“. Die Lust der Frau hingegen gleiche einem „sanften Wind, bei dem sich ein kleines Schiff, wenn auch nur mit Mühe halten“ könne. Die Frau spüre ihre Lust wie „eine sanfte [blande], milde [leniter] aber dennoch ständige Wärme [assidue calorem]“. In einem nüchternen Text unter der Überschrift „Von der Empfängnis“ beschreibt Hildegard das lustvolle Hitzegefühl der Frau – die Sätze sind populär geworden als erste Beschreibung des weiblichen Orgasmus: „Ist die Frau [mulier] mit einem Mann vereint [in conuinctione viri], dann kündigt ein lustvolles Hitzegefühl [calor] in ihrem Gehirn den Genuss [gustum] dieser Lust [delectationis] und den Samenerguss [seminis effusionem] bei dieser Vereinigung [coniunctione] an. Ist der Samen an die richtige Stelle gefallen [semen in locum suum ceciderit], dann zieht ihn die erwähnte starke Hitze [fortissimus calor] im Gehirn an sich und hält ihn fest. Dann ziehen sich auch die Lenden [auch: Nieren, renes] dieser Frau zusammen [contrahuntur], und alle Glieder [membra], die zur Zeit der Menstruation [menstruo tempore] b[e]reit sind, sich zu öffnen, schließen sich alsbald so fest, wie wenn ein starker Mann [fortis vir] etwas in seine Hand schließt.“[34]
Hildegard hat offenbar von ihren Nonnen nicht verlangt, ihre Weiblichkeit gänzlich zu unterdrücken. Das war im Umkreis von Bingen bekannt, die Nonne Tenxwind von Andernach formulierte in einem Brief an Hildegard heftige Kritik: Ihr sei Ungewöhnliches (insolitum) zugetragen worden, so Tenxwind. In Hildegards „consortium“ seien die Virgines bei Festgottesdiensten mit leuchtend weißen, seidenen Gewändern bekleidet, die so lang seien, dass sie den Boden berührten. Auf ihrem Haupt trügen sie über dem herabwallenden Haar goldgewirkte Kronen (coronae). In diese Kronen seien auf beiden Seiten und hinten Kreuze eingefügt, an der Stirnseite sei in anmutiger Form ein Bild des Lammes angebracht. Außerdem seien ihre Finger mit goldenen Ringen geschmückt. Hildegard antwortet ihrerseits mit einem Brief auf die Kritik: Das Schamhaftigkeitsgebot des Apostels Paulus, so erklärte Hildegard, gelte nur für dem Manne unterworfene Ehefrauen, nicht für die Jungfrauen, denn die seien „im Heiligen Geist und in der Morgenröte der Jungfräulichkeit der Unschuld vermählt“. Die Jungfrauen bewahrten die „blitzende“ und „strahlende“ Urform des ursprünglichen Schöpfungsaktes – die himmlische Schönheit der Frau. Als besonderes Zeichen ihrer Vermählung mit Christus stehe es der „virgo“ auch zu, ein leuchtend weißes Kleid zu tragen.[35]
Die unter dem Namen Symphonia armonie celestium revelationum („Symphonie der Harmonie der himmlischen Erscheinungen“) überlieferte Sammlung geistlicher Lieder der Hildegard von Bingen enthält 77 liturgische Gesänge mit Melodien in diastematischer Neumennotation[36] sowie das in Text und musikalischer Notation erhaltene (liturgische Drama) Ordo virtutum, das in zwei Fassungen vorliegt – unneumiert in der Visionsschrift Scivias sowie neumiert im späteren sog. Rupertsberger Riesenkodex (Wiesbaden). Das Spektrum der Gesänge umfasst Antiphonen, Responsorien, Hymnen, Sequenzen, ein Kyrie, ein Alleluja sowie zwei Symphoniae. Hildegards Musik nimmt eine Sonderstellung in der Gregorianik ein; sie zeichnet sich durch weiträumige Tonumfänge und große Intervalle wie Quart- und Quintsprünge aus. Das liturgische Spiel Ordo virtutum bringt die visionäre Gedanken- und Bilderwelt Hildegards am reinsten zum Ausdruck. Der Musikologe Robert schrieb: „Der Ordo Virtutum steht für sich allein und ist beispiellos, eine einzigartige Schöpfung seiner Art.“[37]
Hildegards Selbststilisierung als indocta oder illiterata wird heute häufig missverstanden. Gemeint ist eine Abgrenzung gegenüber einem neuen Konzept von Bildung. Ihre Haltung zur Schrift bezog sich dagegen auf das ältere monastische Handwerk der Gedächtniskunst, wobei sie vor allem an ein Genre aus dem 5. Jahrhundert anknüpfte:[38] Prudentius’ Psychomachia – ein allegorischer Kampf zwischen den Tugenden und den Lastern, denen sie im Ordo virtutum („Spiel der Kräfte“ wie die Seele, die Tugenden, die Engel usw.) durch Gesänge eine musikalische Gestalt und eine Stimme gab – oft in einem ausgreifenden Ambitus, der die plagale und authentische Tonart umspannt. Solche Inszenierungen der Tugenden (virtutes) haben möglicherweise im Rahmen eines liturgischen Dramas die Kirche ihrer Abtei belebt.[39]