Helmut Kramer (2009)

Fritz Diedrich Helmut Kramer (* 30. März 1930 in Helmstedt) ist ein deutscher Jurist und Rechtshistoriker, der bis zu seiner Pensionierung 1995 als Richter am Oberlandesgericht Braunschweig und beim niedersächsischen Justizministerium tätig war. Er ist Gründungsmitglied des „Forum Justizgeschichte e. V.“, dessen Vorsitzender er bis 2006 war, sowie Autor zahlreicher Fachbücher zur Justizgeschichte der NS- und Nachkriegszeit.

Leben

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Jugendbildnis Helmut Kramers (links) neben seinem Bruder im Sommer 1934 am Hauptstrand der Insel Wangerooge vor einem Meer von Hakenkreuzfahnen.

Der Sohn eines Landwirtes besuchte die Helmstedter „Oberschule für Jungen“, das heutige Gymnasium Julianum, wo er 1949 das Abitur ablegte. Anschließend studierte er zunächst Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Göttingen und anschließend Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg. Seine Göttinger Dissertation aus dem Jahre 1967 bei dem Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber trägt den Titel: Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819–1849.

Juristische Laufbahn

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1962 trat Kramer als Gerichtsassessor in Hannover in den niedersächsischen Justizdienst ein. Nach Abordnung an die Generalstaatsanwaltschaft in Braunschweig wurde er 1966 Staatsanwalt, 1967 Landgerichtsrat, 1972 Vorsitzender Richter am Landgericht Braunschweig und 1974 Vorsitzender einer Kammer für Handelssachen sowie einer Strafkammer. Im selben Jahr trat er aus dem Deutschen Richterbund aus und war Gründungsmitglied der Fachgruppe „Richter und Staatsanwälte in der ÖTV“. 1975 wurde Kramer Richter am Oberlandesgericht Braunschweig. Zwischen 1984 und 1989 nahm Kramer eine Vertretungsprofessur an der Universität Bremen wahr.

Aufarbeitung von NS-Zeit und NS-Justiz sowie von deren Folgen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der „Fall Erna Wazinski“

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1965 kam Kramer in Braunschweig mit dem Fall der 19-jährigen Erna Wazinski in Berührung, die 1944 als „Volksschädling“ vom Sondergericht Braunschweig zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Wilhelmine Wazinski, die Mutter der Getöteten, hatte zuvor bereits zweimal (1952 und 1961) versucht, ihre Tochter durch ein Wiederaufnahmeverfahren rehabilitieren zu lassen, war damit jedoch gescheitert. Kramer schlug vor, der Mutter eine Entschädigung zu zahlen, stieß damit bei seinen Kollegen aber auf Unverständnis. Statt einer Entschädigung rechtfertigte die 3. Strafkammer des Landgerichts Braunschweig am 7. Oktober 1965 sogar das 1944 ergangene Todesurteil (Aktenzeichen 12 AR 99/65, [1 Sond. KLs 231/44]).[1]

1991 erreichte Kramer die Wiederaufnahme des Verfahrens. Aufgrund neuer Zeugenaussagen wurde das Todesurteil von 1944 am 20. März 1991 aufgehoben und Erna Wazinskis Unschuld bestätigt.

Die Puvogel-Affäre

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Ernst Albrecht im Februar 1976 erstmals zum Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen gewählt worden war, berief er Hans Puvogel zum niedersächsischen Justizminister. Puvogel (1911–1999) hatte 1936 mit der Arbeit Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher promoviert und darin „… die Förderung einer gesunden Rasse durch Ausmerzung minderwertiger und verbrecherischer Elemente …“ befürwortet.[2] Als 1978 der Inhalt der Arbeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, distanzierte sich Puvogel nicht von seinen damaligen Äußerungen, sondern beharrte sogar öffentlich darauf. Kramer sendete daraufhin kommentarlos Auszüge aus Puvogels Dissertation an einige Berufskollegen, was zu Puvogels Rücktritt im März 1978 beitrug.

Wegen der Versendung der Dissertationsauszüge leitete Rudolf Wassermann, Präsident des OLG Braunschweig, anschließend auf Weisung von Ministerpräsident Albrecht ein förmliches Disziplinarverfahren gegen Kramer ein. Obwohl das Verfahren eingestellt wurde, enthielt der Bescheid die explizite Feststellung, Kramer habe eine Dienstpflichtverletzung begangen. Im Juni 2024 hob die niedersächsische Justizministerin Kathrin Wahlmann die Disziplinarverfügung auf.[3] Kramer begrüßte die darin liegende Zurückweisung eines 1978 noch herrschenden obrigkeitsstaatlichen Richterbildes.[4][5]

Ehrungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werke (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Auszug aus dem Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 7. Oktober 1965, Aktenzeichen 12 AR 99/65 (1 Sond. KLs 231/44). Forum Justizgeschichte e. V.
  2. Hans Puvogel: Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher, zitiert nach Gerhard Henschel: Scherzende Sittenpolizisten. Demütigung, Knüppelschläge auf die Genitalien, Stiefeltritte in den Unterleib, Sterilisation, Kastration, Verstümmelung. Einblicke in den Sexualantisemitismus der Nationalsozialisten. In: jungle world, Beilage Dossier, 30. Oktober 2008, S. 19 f.
  3. Michael Dollmann: Späte Würdigung nach Puvogel-Affäre: Rehabilitierung für streitbaren OLG-Richter. beck-aktuell, 13. Juni 2024, abgerufen am 14. Juni 2024.
  4. „Das Gewissen der niedersächsischen Justiz“ | Nds. Justizministerium. Abgerufen am 13. Juni 2024.
  5. Michael Dollmann und Monika Spiekermann: Das Gewissen der Justiz. Interview mit Helmut Kramer. beck-aktuell, 7. August 2024, abgerufen am 7. August 2024. Ursprünglich erschienen in Neue Juristische Wochenschrift, Nr. 30/2024, NJW-aktuell, S. 12f.
  6. Deutschen Richtertypen den Spiegel vorhalten. Laudatio, gehalten von Ingo Müller zur Verleihung des Hans-Litten-Preises.
  7. Vgl. Sven Lüders: Ein Lebenswerk gegen die Hinterlassenschaften des NS-Unrechts. In: Mitteilungen der HU, Nr. 208 (1+2/2010), S. 17, sowie Sven Lüders: Ein wichtiger Beitrag der Humanistischen Union zur Juristenausbildung. Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 2010 an Helmut Kramer. In: Mitteilungen der HU, Nr. 210 (3/2010), S. 3.
  8. Einladung zur Filmpremiere (PDF; 27 kB).
  9. Rezension (1970) bei JSTOR.
  10. Helmut Kramer: Plädoyer für ein Forum zur juristischen Zeitgeschichte (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive) (PDF-Datei; 749 kB).
Personendaten
NAME Kramer, Helmut
ALTERNATIVNAMEN Kramer, Fritz Diedrich Helmut
KURZBESCHREIBUNG deutscher Jurist und Rechtshistoriker
GEBURTSDATUM 30. März 1930
GEBURTSORT Helmstedt