Als Alt-Jerusalemer Liturgie bezeichnet man den christlichen Gottesdienst in Jerusalem und Palästina in der Zeit zwischen der Jerusalemer Urgemeinde und der Übernahme der liturgischen Bräuche und Bücher des Byzantinischen Ritus aus Konstantinopel.

In liturgischen Rubriken wird die Jerusalemer Liturgie als Ritus der Heiligen Stadt (κατὰ τὸv ἁγιοπολίτην oder ἁκολουϑία τοῦ ἁγιοπολίτου) bezeichnet, der byzantinische als jener der Großen Kirche von Konstantinopel (κατὰ τὸν ἐκκλησιαστήν oder ἁκολουϑία ... ὁ ἐκκλησιαστής) oder Ordnung der Romania, des Rhomäerreiches (τῆς Ῥωμανίας τάξις).

Modell der Jerusalemer Kathedrale (Anastasis, Grabeskirche) in der Spätantike; bei St. Peter in Gallicantu, Jerusalem
Hauptorte der Feiern in der Jerusalemer Kathedrale (von links): Basilika („Martyrium“, „Konstantinon“), Innenatrium („Heiliger Garten“) mit Kreuzesfelsen, Grabrotunde („Anastasis“)

Liturgiegeschichte

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Die altkirchliche Liturgie Jerusalems und Palästinas folgte im Wesentlichen gemeinchristlicher Übung, gab den üblichen Feiern jedoch – wie ähnlich andere bedeutende stilbildende Zentren der Christenheit – eigene Text- und Feiergestalt. Dabei zeigen sich einerseits Übereinstimmungen mit der Liturgie im Patriarchat Antiochien, andererseits gewisse Unterschiede selbst innerhalb Palästinas, z. B. hinsichtlich des Klosters Mar Saba. In der liturgiegeschichtlichen Entwicklung Palästinas ist zu unterscheiden zwischen einer „spätantiken“ Phase und einer jüngeren Phase (ab dem 8. Jahrhundert), als deren Beginn eine mehr als oberflächliche Liturgiereform angenommen wird (Neues Tropologion, Neues Horologion u. a.). Originale Hauptsprache war das Griechische; daneben kam auch der regionale Dialekt des Aramäischen und in späterer Zeit das Arabische zur Anwendung.

Die Alt-Jerusalemer Liturgie übte starken Einfluss auf die nähere oder weitere Nachbarschaft aus, besonders auf das Mönchtum in oder bei der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel. Anderseits wurde sie in ihrer Heimat Palästina von der konstantinopolitanischen allmählich verdrängt und seit spätestens dem 13. Jahrhundert von dieser so gut wie ganz abgelöst. Daher ist sie heute nicht mehr zu beobachten, sondern nur noch wissenschaftlich zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion ist bei weitem nicht abgeschlossen, sondern noch ein Desiderat der liturgiewissenschaftlichen Forschung. Insofern kommt der Entdeckung, Erfassung und Übersetzung von Quellen besondere Bedeutung zu.

Einführende Literatur

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Quellen

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Der Gottesdienst Jerusalems ist ab etwa Mitte des 4. Jahrhunderts reichhaltig dokumentiert: Die 381/84 n. Chr. beobachteten Jerusalemer Feierformen von Sonntag und Woche, Festen und Festzeiten schildert die Pilgerin Egeria in ihrem Reisebericht Kapitel 24–49.[1]; Wichtige Nebenquelle sind die 19 Katechesen, die Kyrill von Jerusalem († 386/87) um 350 den Täuflingen hielt, sowie die offenbar einige Jahrzehnte jüngeren fünf Mystagogischen Katechesen für die Neugetauften desselben Kyrill oder seines Nachfolgers Johannes II.

Das Repertoire elementarer liturgischer Textbausteine, wie Lesungen, Psalmodie, Gebet und Hymnodie, ist weithin bekannt oder rekonstruierbar.

Lektionare

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Perikopen und Psalmen sind verzeichnet im Jerusalemer Lektionar-Typikon („Kanonarion“)[2], im originalen Griechisch verloren, doch erhalten in (a) armenischer und (b) georgischer Übersetzung. Enthalten sind sowohl Evangelien wie die ihnen voraufgehenden nichtevangelischen Lesungen. Die armenische Version spiegelt den Zustand, den die in Grundzügen bereits Mitte des 4. Jahrhunderts festliegende Jerusalemer Leseordnung 417 bis 439 erreicht hatte. Darin noch nicht verzeichnet sind spezielle Perikopen für die gewöhnlichen Sonntage. Anders dann die im 8. Jahrhundert schlussredigierte georgische Übertragung („Kanoni“), welche die Entwicklungen zwischen dem 5. (nach 439) und dem 8. Jahrhundert erkennen lässt. Die besondere Ordnung des Sinai-Klosters vertritt das Lektionar Sinait. syr. NF 56 (933 n.Ch.).[3]

Jüngere Evangeliare nach Jerusalemer Leseordnung haben sich erhalten mit dem Codex Sinait. gr. 210+Sin. gr. NE Meg. Perg. 12+Petropol. RAIK 194+Sin. Harris app. 16.22 (l 844 v. J. 861/62 oder 877/78, Mar Saba?[4]), der griechisch-arabischen Bilingue Sinait. arab. 116 (v. J. 995/96, Sinai[5]) sowie in arabischer Übersetzung mit Cod. Borghese arab. 95 (9. Jh.) und Berlin Or. Oct. Ms. 1108 v. J. 1046/47.

Gesangbücher

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Das armenische Scharaknoz und vor allem georgische „Tropologia“ (georg. iadgari; Gesangbücher) tradieren den in der Spätantike anwachsenden Schatz Jerusalemer Kirchenpoesie, deren griechische Originaltexte sich z. T. aus byzantinischen Liturgiebüchern wiedergewinnen lassen. Man unterscheidet ein „Altes Iadgari“ und ein jüngeres „Neues/Großes Iadgari“. Erste Übersetzungen aus dem Georgischen in westliche Sprachen waren:

Ältestes bekanntes Tropologion palästinischer Tradition in griechischer Originalsprache ist der jüngst entdeckte Codex Sinait. gr. Meg. Perg, 56+5 (9. Jh.; Ägypten).[6]; entwicklungsgeschichtlich entspricht er dem georgischen „Neuen Iadgari“.

Gebetbücher

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Das Jerusalemer „Große Euchologion“ für die Hand von Bischof und Priestern ist als geschlossenes Buch verschollen. Sein Eucharistieteil ist mit der griechischen Jakobos-Liturgie und der Jakobos-Präsanktifikaten-Liturgie erhalten. Weiteres Material findet sich vor allem in noch unedierten georgischen Handschriften des 10./11. Jahrhunderts.[7]

Vom „Horologion“ (Stundenbuch) finden sich neben orientalischen Übersetzungen auch jüngere griechische Vertreter, so der Codex Sinait. gr. 863 (9. Jh.).

Typikon

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Letzter bedeutender Zeuge vorbyzantinischer Jerusalemer Liturgie ist das sogenannte Anastasis-Typikon, ein i. J. 1122, also unter den Kreuzfahrern, in Jerusalem geschriebener Kodex (Hieros. s. Cruc. 43+Petropol. RNB gr. 359), der ältere (etwa 10. Jh.), umständebedingt nicht befolgbare Bräuche der Kar- und Osterwoche aufzeichnet, offenbar aus Anhänglichkeit und zum erhofften Nutzen der Griechen nach Erledigung lateinischer Fremdherrschaft.

Die Feiern

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Eucharistie – Jakobus-Liturgie

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Die palästinische Ordnung der Eucharistiefeier trägt den Namen des Jerusalemer Gründerbischofs Jakobus (Jakobus-Liturgie). Ihr Zentralgebet („Hochgebet“), die Jakobus-Anaphora, geht auf das 4. Jahrhundert und vielleicht auf Palästinas Metropole Caesarea Maritima zurück. Sie wurde vom Patriarchat Antiochien übernommen. Das volle gottesdienstliche Formular ist für ein älteres Entwicklungsstadium durch die georgische Übersetzung überliefert. Die insgesamt nicht sehr zahlreichen griechischen Handschriften repräsentieren spätere Zustände.

Ebenfalls unter dem Namen des Herrenbruders Jakobus gab es eine eigene palästinische Ordnung der gemeinschaftlichen „Kommunionfeier“ (= „Liturgie der vorgeheiligten Gaben“ alias „Präsanktifikaten-Liturgie“). Sie ist vollständig in georgischer Übertragung erhalten, griechisch nur als Fragment.

Ab dem 19. Jahrhundert sind breitere Revitalisierungsversuche der „Jakobus-Liturgie“ im Rahmen des Byzantinischen Ritus zu beobachten:

Das Hauptproblem dieser Versuche besteht darin, dass zwar die Gebetstexte der historischen Jakobus-Liturgie bekannt sind, aber kaum etwas darüber, wie ihre Feier in Jerusalem aussah. Daher zwängt man die Texte entweder in ein byzantinisch-konstantinopolitanisches Korsett oder „restauriert“ mit reichlich Phantasie ein Zeremoniell, das man für schön und würdig hält.

In jüngster Zeit wird in Griechenland und in den USA auch eine rekonstruierte Fassung der Jerusalemer Jakobus-Präsanktifikatenliturge gefeiert.

Initiatio Christiana

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Für die Riten von Katechumenat, Taufe, Chrismation, Erst-Eucharistie war in Palästina eine Ordnung in Gebrauch, deren syrisch-antiochenische Fassung unter den Namen des Basilius von Caesarea umläuft. Der vollständige Text ist in alt-georgischer Übersetzung erhalten, vom griechischen Text ein größeres Bruchstück.

Ordination

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Die vor-byzantinischen Gebete für die Bestellung eines Diakons und eines Presbyters wurden Mitte des 20. Jh. wiederentdeckt, kürzlich auch weitere, darunter das für einen Bischof.

Krankensalbung

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Slawische Handschriften bezeugen eine besondere Jerusalemer Form der Segnung von Öl und Salbung der Kranken im Kirchengebäude: Am Anfang der Messfeier traten sieben Priester zu einer Lampe in der Mitte der Kirche, gossen jeweils etwas Öl in die Lampe, sprachen ein Gebet und zündeten unter Gesang sieben Dochte an. Danach wurden sieben Epistel- und Evangelienlesungen und sieben Gebete vorgetragen, schließlich dem Kranken das Evangelienbuch aufgelegt. Anschließend wurde die Meßfeier am Altar fortgesetzt. An ihrem Ende kehrten die Priester in die Mitte der Kirche zurück und salbten den Kranken sowie jeden, der gesalbt zu werden wünschte. Alter und Entwicklung dieser Ordnung sind noch nicht abschließend erforscht.

Tagzeiten (Stundengebet)

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Unterschieden werden verschiedene Entwicklungsstufen:

1. Das altkirchliche Offizium der Kathedrale von Jerusalem.

2. Dessen Adaptation ebendort oder durch die Mönche des Sabas-Klosters in zwei verschiedenen Redaktionen,

a) einer älteren, die in georgischen Übersetzungen überliefert ist, und

b) einer jüngeren, vertreten u. a. durch den Codex Sinait. gr. 863 (Neues Horologion).

3. Das entwickelte palästinische Horologion (Stundenbuch), das die Grundlage des Horologions des Byzantinischen Ritus bildet.

Feste und Festzeiten

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Jerusalems Christen nutzten seit dem 4. Jahrhundert die Bauten und Höfe bei Grab Christi und Golgothafelsen, die Grabeskirche, sowie das ihnen nun ungehindert offene Stadtgebiet nebst seinem Umland bis Betlehem und Bethanien, um an wechselnder Stätte, im Freien oder in Kirchbauten, das Gedächtnis der Taten Jesu in Gottesdiensten breit zu entfalten („Stationsgottesdienst[9]). Und zwar (a) auf der Basis der biblischen Terminangaben am jeweiligen Jahrestag, möglichst zur genauen Stunde, und (b) durch Versammlungen am bekannten oder bestimmten Ort des Geschehens. Diese sog. Historisierung der Liturgie wird durch ein entsprechendes Textrepertoire vervollständigt: (1) Lektüre abgestimmter Perikopen, der biblischen „Geschichte des Festes“,[10] und (2) passende Gesänge sowie Gebete. Daraus folgt als typisch Jerusalemer Grundregel der Festfeiern, „daß immer sowohl Hymnen wie Antiphonen und Lesungen und auch Gebete, die der Bischof spricht, solche Gedanken haben, dass sie für den Tag, der gefeiert wird, und den Ort, wo die Handlung vor sich geht, geeignet und passend sind immerdar“.[11]

Kennzeichnend für das Alt-Jerusalemer Kirchenjahr sind:

Osterfestkreis

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Weihnachtsfestkreis

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Festkalender

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Kreuzfeste

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Marienfeste

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Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Egeria: Itinerarium, Reisebericht. Mit Auszügen aus: Petrus Diaconus, De locis sanctis. Die heiligen Stätten. Lateinisch-deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Georg Röwekamp unter Mitarbeit von Dietmar Thönnes. 2. verb. Aufl. Herder, Freiburg i. Br. 2000.
  2. Vgl. Sebastià Janeras: Les lectionnaires de l’ancienne liturgie de Jérusalem. In: Collectanea Christiana Orientalia 2 (2005) 71–92.
  3. Alain J. Desreumaux: Un lectionnaire syriaque melkite daté de 933 AD: Le manuscrit Sinai NF syr. 56. In: Parole de l'Orient 45 (2019) 179-205.
  4. E. Velkovska: Le sottoscrizioni e le note dell'evangeliario agiopolita Sinai gr. 210 e Sinai gr., NE ΜΓ 12. In: Studi sull'Oriente Cristiano 20 (2016) 189–204.
  5. Robert Turnbull: Arabic Gospel Lectionaries at Sinai. In: Collectanea Christiana Orientalia 16 (2019) 131−169, hier 138f.
  6. Alexandra Nikiforova: The Oldest Greek Tropologion Sinat. Gr. ΜΓ56+5. In: Oriens Christianus 98 (2015) 138–173.
  7. Das Material wird derzeit in einem DFG-Projekt bearbeitet [1].
  8. Heinzgerd Brakmann: Das zweite Leben der griechischen Jakobos-Liturgie. In: Ostkirchliche Studien 64 (2015) 48–79.
  9. zu den einzelnen Orten der Feiern vgl. S. Verhelst: Les lieux de station du lectionnaire de Jérusalem. In: Proche-Orient Chrétien 54 (2004) 13–70. 247–289.
  10. Hesych. hom. 1, 1 (1, 24 Aubineau).
  11. Egeria peregr. 47, 5 (SC 296, 314–316).
  12. Vgl. B. Botte: Un nouveau document sur la liturgie de Jérusalem. In: L’Orient Syrien 4 (1959) 242–246 mit Liste der Feste in der Anastasis (Grabeskirche).