Der Begriff Silbermann-Sorge-Temperatur basiert auf einer Schrift des Organisten, Komponisten und Musiktheoretikers Georg Andreas Sorge (1703–1778): Gespräch zwischen einem Musico theoretico und einem Studioso musices von der Prätorianschen, Printzischen, Werckmeisterischen, Neidhardtischen und Silbermannischen Temperatur … Lobenstein 1748. Sorge beschrieb darin die vermeintliche Orgeltemperatur Gottfried Silbermanns (1683–1753), gegen die er in scharfer Polemik Stellung nimmt. Sorge stützte sich auf sein Hörergebnis bei Feststellung der Stimmungsart der Silbermann-Orgeln in der Stadtkirche Greiz und der Kapelle von Schloss Burgk, die er zwischen 1743 und 1748 untersuchte.

Silbermann-Orgel in Schloss Burgk, deren Temperatur Sorge untersuchte

Sorge ermittelte die Temperatur in folgender Weise:

„Wer eine Probe davon machen will, der ziehe die Octav 4. Fuß, und die Quint 3. Fuß an, greife so denn den Clavem gis, so wird er eine reine Quint hören …, alsdenn schiebe er die Quint 3. Fuß hinein, und greife zu diesen gis die Quint dis, so wird er gleich hören, um wie viel diese Quint zu hoch ist… Will man eine Probe von denen … 4. falschen tertzen machen, ziehe man die Octav 2. Fuß und die Terz aus 2. Fuß zusammen, und greife Gis, so wird man eine reine Tertz hören; darauf schiebe man die Tertz hinein, und greife zu Gis das C, so wird man bald hören um wie viel diese Tertz zu hoch ist. Und also kann mans auch mit Fis, Cis und H versuchen…“

Georg Andreas Sorge: Gespräch zwischen einem Musico theoretico und einem Studioso musices. S. 16.[1]

Sorge kam zu folgendem Ergebnis: Es sind nemlich 8. grosse Tertzen allzu rein, und 4. allzu scharff. Eilff Quinten schweben zu sehr abwärts, und die zwölffte. Nemlich gis dis unleidlich aufwärts. Neun kleine Tertzen sind allzu rein, und 3. sind allzu faul, weich und falsch; und also auch mit denen Sexten. Ich will voraus setzen, dass 11. Quinten … ein Sechstheil abwärts schwebeten, da es doch bey mancher kaum dabey bleiben wird…[2] Sorge fügt jedoch hinzu: So gar genau kann man es eben nicht bestimmen.[3]

Die Centwerte einer Temperatur mit elf um ein Sechstel des pythagoreischen Kommas verkleinerten Quinten:

Ton Skala Kleinterzen Großterzen Quinten
c 0,0 305,9 392,2 698,0
cis 86,3 305,9 415,6 698,0
d 196,1 305,9 392,2 698,0
es 305,9 282,4 392,2 698,0
e 392,2 305,9 392,2 698,0
f 502,0 282,4 392,2 698,0
fis 588,3 305,9 415,6 698,0
g 698,0 305,9 392,2 698,0
gis 784,4 305,9 415,6 721,5
a 894,1 305,9 392,2 698,0
b 1003,9 282,4 392,2 698,0
h 1090,2 305,9 415,6 698,0

Tonbeispiel

Die Dur-Dreiklänge im Quintenzirkel in möglichst ähnliche Tonlage

Ges-, Des-, As-, Es-, B-, F-, C-, G-, D-, A-, E-, H- und Fis-Dur

(Klanglich identisch Fis-Dur=Ges-Dur, Des-Dur=Cis-Dur usw.)

Silbermann-Sorge-Temperatur

Zum Vergleich 1/4-mitteltönig: Immerhin die Es-,B-, F-, C-, G-, D-, A- bzw. E-Dur-Akkorde sind fast rein. Gleichstufig

Nach Frank-Harald Greß ist Sorges Darstellung aufgrund mehrerer Fakten unglaubwürdig:[4]

Das mathematisch idealisierte Temperaturschema wurde als „Silbermann-Sorge-Temperatur“ verbreitet und fand Aufnahme in zahlreiche Publikationen.[8] Angaben anderer Autoren zu von ihnen ermittelten Temperaturen von Silbermann-Orgeln unterscheiden sich deutlich von der „Silbermann-Sorge-Temperatur“.[9]

Während Helmut K. H. Lange eine überdurchschnittliche Hörfähigkeit Sorges und die Zuverlässigkeit seiner Ergebnisse für möglich hält,[10] gelangt der Orgelbauer Peter Vier zur „Erkenntnis, dass Sorges Angaben auf unzureichenden Hörergebnissen begründet sind. Alle daraus gefolgerten Berechnungen sind nicht beweiskräftig.“[11]

Auf die genannten Zitate der „Sorge-Silbermann-Temperatur“ in der Fachliteratur stützte sich die Anwendung dieser nicht authentischen Temperatur bei Restaurierungen mehrerer Gottfried-Silbermann-Orgeln seit Ende des 20. Jahrhunderts in der Schlosskapelle Tiefenau, der Kirche Helbigsdorf, Forchheim, Marienkirche Rötha und Pfaffroda, mit modifizierter Temperaturvariante in Schloss Burgk und in St. Georgen in Glauchau.

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Georg Andreas Sorge: Gespräch zwischen einem Musico theoretico und einem Studioso musices. Lobenstein 1748, S. 16 (online).
  2. Georg Andreas Sorge: Gespräch zwischen einem Musico theoretico und einem Studioso musices. Lobenstein 1748, S. 19 f (online).
  3. Georg Andreas Sorge: Gespräch zwischen einem Musico theoretico und einem Studioso musices. Lobenstein 1748, S. 21 (online).
  4. Greß: Die Orgeltemperaturen Gottfried Silbermanns 2010, S. 21 f.
  5. Herbert Hüllemann: Die Tätigkeit des Orgelbauers Gottfried Silbermann im Reußenland. Leipzig 1937, S. 38; Staatsarchiv Greiz: a. Rep. C, Cap. II A e, Nr. 47 b.
  6. Greß: Die Orgeltemperaturen Gottfried Silbermanns 2010, S. 15.
  7. Greß: Die Orgeltemperaturen Gottfried Silbermanns 2010, S. 24 ff. und S. 28 ff.
  8. Wilhelm Dupont: Geschichte der musikalischen Temperatur. Nördlingen 1935, S. 93; Bernhard Billeter: Anweisung zum Stimmen von Tasteninstrumenten. Kassel 2010, S. 29; Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur. Band 1: Johann Sebastian Bach und seine Zeit. Kassel 1981, S. 22 f.
  9. Arthur Eger: Stimmungshöhe und Stimmungsart und ihre Probleme bei der Wiederherstellung alter wertvoller Orgeln : mit einer Untersuchung der Temperatur Gottfried Silbermanns. [Freiberg 1960]; Werner Lottermoser, E. Jenkner: Bericht I der Physikalisch-technischen Bundesanstalt zum Vorhaben: Kathedrale Dresden. Typoskript, Braunschweig [ca. 1968].
  10. Helmut K. H. Lange: Die Orgelstimmung Gottfried Silbermanns. 1973, S. 166 f.
  11. Peter Vier: Die Orgelstimmung Gottfried Silbermanns nach Georg Andreas Sorge. 1986, S. 21.