Siegfried Gerlich (* 21. April 1967) ist ein deutscher Pianist und Publizist.
Siegfried Gerlich wurde in Oberschlesien geboren. 1968 kam er mit der Familie als Spätaussiedler nach Hamburg, wo er auch aufwuchs und das katholische Gymnasium absolvierte. Er studierte Philosophie bei Herbert Schnädelbach und Bernhard H. F. Taureck sowie Musikwissenschaft bei Peter Petersen und Constantin Floros an der Universität Hamburg.
Neben seinem publizistischen Wirken übernahm Gerlich seit den 1980er Jahren verschiedene Theater-Assistenzen und -Hospitanzen bei Heiner Müller und Harry Buckwitz, sowie musikalische Leitungen bei Theaterproduktionen und Musikfestivals, unter anderem am Thalia Theater Hamburg, Ernst-Deutsch-Theater Hamburg, auf Kampnagel Hamburg sowie an der Freien Volksbühne Berlin. Langjährige Zusammenarbeit verbindet Gerlich mit Hannelore Hoger, Eva-Maria Hagen, Marie Biermann, Maria-Debora Wolf, Cornelia Schirmer und Anne Weber. Projektbezogen arbeitete er auch mit Barbara Sukowa, Angela Winkler, Eva Mattes, Corinna Harfouch, Nina Hoss, Nina Hagen, Wolf Biermann. Felicitas Breest und Alexander Kluge zusammen.
Seit 2010 ist Gerlich als Dozent und Korrepetitor an der Schule für Schauspiel Hamburg tätig.[1]
Er war bis 2006 einige Jahre mit der Schauspielerin Hannelore Hoger liiert.[2]
Seit 1992 ist Gerlich als freier Geisteswissenschaftler publizistisch tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Philosophie und Musikästhetik, Psychoanalyse und Anthropologie, Kulturtheorie und Geschichte. Gerlichs thematisch weit gestreute und häufig interdisziplinär angelegte Arbeiten kreisen um die Ambivalenzen und Krisen der Moderne sowie deren philosophische, politische und psychologische Ausdrucksformen.
In seinem 1992 erschienenen Buch Sinn, Unsinn, Sein suchte Gerlich die Psychoanalyse Jacques Lacans in eine theoretisch produktive Beziehung zu diversen Schulen des französischen Poststrukturalismus (wie der Diskursanalyse Michel Foucaults, der Dekonstruktion Jacques Derridas und der Schizoanalyse von Gilles Deleuze und Félix Guattari) zu setzen.
Von 1992 bis 2013 beteiligte sich Gerlich als Mitglied des Düsseldorfer Vereins für Psychoanalyse und Philosophie e.V. mit Aufsätzen und Vorträgen kritisch an der Theorieentwicklung der Pathognostik, einer von Rudolf Heinz begründeten, feministisch inspirierten Psychoanalyse-Variante.
2005 veröffentlichte Gerlich den Gesprächsband Einblick in ein Gesamtwerk, in dem der durch den sogenannten Historikerstreit in Wissenschaft und Öffentlichkeit umstrittene Historiker Ernst Nolte über seinen Lebens- und Denkweg Auskunft gibt. 2009 folgte mit Ernst Nolte: Portrait eines Geschichtsdenkers eine größere Monographie über den Historiker, die eine theoretisch ausgerichtete Gesamtdarstellung seines Lebenswerkes bietet. Lorenz Jäger sprach von diesem Buch als einer „sympathetisch geschriebenen Biographie“[3] und Mathias Brodkorb nannte es „die derzeit anspruchsvollste und kenntnisreichste Darstellung des Lebenswerkes Noltes [...], die im deutschen Buchhandel erhältlich ist.“[4]. Das Buch wurde von Mehdi Tadayoni ins Persische übersetzt und erschien 2018 unzensiert im Iran.
Anders als in dieser Monographie, in der Gerlich das Gesamtwerk Noltes gegen aus seiner Sicht vermeintliche Missverständnisse und Vorurteile verteidigte, machte er in dessen 2011 erschienenem Buch Späte Reflexionen einen sekundären Antisemitismus aus.[5] In dem Publikationsorgan Sezession, damals herausgegeben von Götz Kubitschek und Karlheinz Weißmann, setzte er sich mit dem anschließenden Widerspruch von rechtskonservativer Seite auseinander.[6]
2013 erschien die Monographie Richard Wagner. Die Frage nach dem Deutschen, die sich vorrangig mit den politischen und kulturkritischen Schriften des Komponisten befasst. Insbesondere beschäftigt sich Gerlich mit Wagners Ideen zur Kulturnation und Kunstreligion, die sich gegen den preußischen Militarismus sowie den aufkommenden Imperialismus richteten. Ausführlich setzt sich Gerlich auch mit Wagners Judenfeindschaft auseinander, die er in der Grauzone zwischen christlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus verortet. Der Politikwissenschaftler und Wagnerforscher Udo Bermbach nannte das Buch „eines der wichtigsten Wagner-Publikationen dieses Jubiläumsjahres […], das uns mit überflüssigen Machwerken überschwemmt hat“.[7]
Ebenfalls 2013 publizierte Gerlich den Aufsatz Zur Anthropologie der Geschlechter, in welchem er miteinander konkurrierende (ethologische, evolutionsbiologische, ethnologische und kulturalistische) Auffassungen von Familienstrukturen und Geschlechterrollen darstellte und in ihren methodischen Einseitigkeiten kritisierte. Gerlich argumentiert im Anschluss an Gehlen, „dass die patriarchale Familie die ‚Grundlagen jeder höheren Kultur sichern’ würde, da der Mensch ansonsten seinen ungezügelten Trieben unterlegen sei. Die patriarchale Familie wird von Gerlich als eine sich geradezu evolutionär entwickelte Form der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern dargestellt, die nur durch die allmähliche Entlastung der Menschheit von schwerer Arbeit in Folge der industriellen Revolution überhaupt infrage gestellt würde.“[8] Zur theoretischen Versöhnung der verschiedenen Ansätze schlug Gerlich das von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky vertretene anthropologische Konzept des „Mängelwesens“ vor: Zur kulturellen Stabilisierung der biologischen Instinktreduziertheit des Menschen hätten sich über lange Perioden der Geschichte Ehe und Familie als überlebensnotwendige Institutionen bewährt. Erst die technische Entlastung von unmittelbarer Lebensnot in Folge der industriellen Revolution „stellte die Geschlechterdifferenz als ein soziokulturelles Phänomen frei“ und ermöglichte Frauen, „nach eigenen Bedürfnissen zu leben und zu arbeiten.“ Gerlich widerspricht damit der Biologisierung von Geschlechterrollen. Zugleich drückt er angesichts extrem individualistischer und neoliberaler Konzepte menschlicher Beziehungen die Besorgnis vor einer Aufzehrung der stabilisierenden „primären Vergemeinschaftungsformen“, d. h. von Ehe und Familie, aus.[9]
Zu Gerlichs Versuchen, die Ambivalenzen der modernen Welt im Spannungsfeld von Dekadenz und Faschismus auszuloten, gehören auch Abhandlungen und Artikel, in denen er sich mit problematischen Figuren der europäischen Geistesgeschichte wie dem Marquis de Sade, Otto Weininger und Ernst Jünger beschäftigt.
Gerlich hat u. a. in den Zeitschriften Der Pfahl, Psychoanalyse und Philosophie, Sezession, Tumult, FUGE – Journal für Religion und Moderne, wagnerspectrum und Cato publiziert.
Autoren wie z. B. Mathias Brodkorb,[10] Andreas Öhler,[11] Lucius Teidelbaum,[12] Felix Klopotek[13] und Hanne Schweitzer[14] ordnen ihn der Neuen Rechten zu. Volker Weiß hingegen nennt Gerlich einen „Sezession-Gelegenheitsautor“ und hebt hervor, dass er einer Kontroverse mit dem ehemaligen Vorsitzenden des rechtsextremen Nationaldemokratischen Hochschulbundes und heutigen neurechten Juristen Thor von Waldstein ein „proisraelisches Finale“ gab, das ihm seitens der Leser den Vorwurf „zionistischer Propaganda“ einbrachte.[15]
Gerlich bekennt sich lt. seines Eintrags[16] im Staatspolitischen Handbuch des Vereins für Staatspolitik e.V.[17] zu einem aufgeklärten, liberalen Modernitätskonservatismus und stellt dabei einen Bezug zu Hannah Arendt her, die ihrerseits „allen konservativen Ansätzen eine Absage erteilt, Sinn in irgendeiner Form ‚organisch‘ (rassisch, ethnisch, kulturell) zu begründen“.[18]