Rimini Protokoll (vlnr. Stefan Kaegi, Helgard Haug, Daniel Wetzel) 2012

Rimini Protokoll ist eine deutsche Künstlergruppe. Sie entwickelt Bühnenstücke, Interventionen, szenische Installationen und Hörspiele oft mit Experten, die ihr Wissen und Können jenseits des Theaters erprobt haben. Sie übersetzen Räume oder soziale Ordnungen in theatrale Formate. Viele ihrer Arbeiten zeichnen sich durch Interaktivität und einen spielerischen Umgang mit Technik aus.

Geschichte

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Die Gruppe besteht aus Helgard Haug (* 1969), Stefan Kaegi (* 1972) und Daniel Wetzel (* 1969). Die drei Künstler studierten in den 1990er-Jahren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen.[1]

Im Gegensatz zum Rimini-Protokoll des Geologen Colin Campbell (2004) verbindet das deutsch-schweizerische Team, von dem die Benennung Rimini Protokoll bereits seit 2002 genutzt wird, keine politische Botschaft. Es ist eher ein ästhetisches Programm: Die unterschiedlichen Formen von Protokoll – als Textgattung bzw. als Ablaufplan für die Inszenierung beispielsweise internationaler Beziehungen – werden dem Drama als vorherrschende Textform des Theaters und des Hörspiels gegenübergestellt.[2]

Markenzeichen ihrer Theater- und Radioprojekte ist die Arbeit mit sogenannten Experten aus der Wirklichkeit oder Spezialisten: Es sind Theater-Laien, die jedoch nicht als Laien, sondern als Darsteller ihrer selbst auftreten und von den Künstlern als Experten oder auch ready-made-Darsteller bezeichnet werden. Die Darsteller spielen keinen Dramen-Text, sondern sich selbst in Theateraufführungen, Radiostücken und Filmprojekten. Dabei wird der Text sowie der Verlauf auf der Basis ihrer jeweiligen Biografien und Berufe erarbeitet.[3]

Seit 2000 entstanden – in Abgrenzung vom Laientheater oder Amateurtheater – eine Reihe von Inszenierungen, auch an großen Schauspielhäusern. Es bildete sich ein Gegenentwurf zum herkömmlichen Berufstheater an dessen angestammten Spielstätten heraus.[4]

Seit 2005 bearbeitet die Gruppe auch dramatische Stoffe, wie bei der dokumentarischen Inszenierung von Schillers Wallenstein. Hier treten Menschen auf, deren Leben Parallelen zu Personen und Motiven der dramatischen Vorlage aufweisen.[5] In dem 2007 aufgeführten Werk Uraufführung: Der Besuch der alten Dame nach Friedrich Dürrenmatt – einem Exkurs über das Erinnern – spielen Menschen mehr als fünfzig Jahre später im Schauspielhaus Zürich, dem Ort der damaligen Uraufführung. Die jetzigen Darsteller erinnern sich an das Stück, an den Welterfolg Dürrenmatts und spielen dabei über weite Strecken das Theaterstück –, dabei waren sie fünfzig Jahre zuvor Zuschauer, Bühnentechniker, Kinderstatisten oder sonstige Zaungäste gewesen.

Neben diesen speziellen, dokumentarischen Spielarten des Sprechtheaters (siehe dokumentarisches Theater) realisieren Rimini Protokoll ortsspezifische Projekte, bei denen das Theater weniger an seinen angestammten Orten erzeugt als andernorts vorgefunden wird: Im öffentlichen Raum und an Orten, die speziellen, para-theatralen Regeln unterliegen wie Strafgericht (Ortstermin, Berlin 2004), Wochenmarkt (Markt der Märkte, Bonn 2004) oder Stadtverwaltung (Cameriga, Riga 2005).[6]

International bekannt wurde Rimini Protokoll mit der „Raubkopie“ einer gesamten Sitzung des Deutschen Bundestags. Bonner Wähler erklärten sich zu dem Experiment bereit: Sie übernahmen einen Tag lang verteilte Rollen analog zur Plenarsitzung des Originals und sprachen in der Manier von Simultanübersetzern, was im kurz zuvor nach Berlin umgezogenen Bundestag gesprochen wurde (Deutschland 2, Bonn 27. Juni 2002). Dazu mussten sie auf eine Probebühne des Bonner Theaters in den Stadtteil Beuel ausweichen, weil Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Nutzung des ehemaligen Parlamentsgebäudes untersagte, obgleich das Festival Theater der Welt den Raum regulär angemietet hatte und entgegen den Befürchtungen von offizieller Seite dem Wortlaut der Original-Reden keine eigene Meinung hinzugefügt werden sollte.[7]

Rimini Protokoll erarbeitet auch Hörspiele, die zumeist auf Basis ihrer Theaterprojekte entstehen, jedoch häufig in kommentierend oder persiflierend auf diese Bezug nehmen. Wie bei den meisten Theaterprojekten stehen die Stimmen und Aussagen 'echter Menschen' statt professioneller Sprecher im Vordergrund, im Gegensatz zu den meisten Theaterprojekten von Rimini Protokoll kultivieren die Hörstücke aber den – wenn auch durch Schnitt und Musik verfremdeten und beschleunigten – direkten, dokumentierten Dialog.[8]

“Situation Rooms” wurde, wie auch „Deadline“ und „Wallenstein“ sowie „Chinchilla Arschloch, waswas“ und „All right. Good night.“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Darüber hinaus erhielten Rimini Protokoll u. a. den Mülheimer Dramatikerpreis, den Deutschen Theaterpreis Faust, den Grand Prix Theater des Schweizer Bundesamts für Kultur, den Europäischen Theaterpreis, den Silbernen Löwen der Theaterbiennale Venedig sowie den Deutschen Hörspielpreis und den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Zudem gewann 2005 „Mnemopark“ den Jurypreis des Festivals Politik im freien Theater. 2010 erhielten Rimini Protokoll den „Routes Award for Cultural Diversity“ der Europäischen Kulturstiftung und „Nachlass“ gewann 2018 auf dem Bitef Festival Belgrad den Grand Prize der Jury, sowie den „Premio Ubu“ für das beste ausländische Gastspiel in Italien.

Werke

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Ein Werkverzeichnis von 1995 bis 2007 enthält Dreysse/Malzacher (Hrsg.): Experten des Alltags (siehe Literatur).

Theater

Hörstücke

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Verzeichnis der Hörspiele von Rimini Protokoll beim Hörspielpark

Film

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Installation

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Auszeichnungen

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Schriften

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Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Thorsten Jantschek: In dieser Schule lernt man, mit der Wirklichkeit zu spielen René Pollesch, Tim Staffel, Rimini Protokoll, She She Pop: Die Heroen des neuen Theaters sind alle in Gießen ausgebildet worden. Ein Sammelband erklärt, wie es dazu kommen konnte. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, 26. Februar 2013
  2. Andreas Klaue: Suchbewegungen in verschiedene Richtungen. Gespräch mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, in: Mimos 2015. Schweizer Theaterjahrbuch 77. Verlag Peter Lang, Bern 2015, ISBN 978-3-0343-2069-6, S. 31–43
  3. vgl. Eva Behrendt: Spezialisten des eigenen Lebens, in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hrsg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Alexander Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-89581-181-4, S. 64–73
  4. "Rimini ist das Heißeste, intelligent Überraschendste, das die internationale Theaterszene derzeit zu bieten hat. Und darum erhalten die Rimini-Köpfe Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel inzwischen Anrufe nicht nur von den großen deutschsprachigen Schauspielhäusern, sondern von Festivals, Firmen und Institutionen aus allen Kontinenten." – Peter von Becker: "Wunder, wirklich wahr", Der Tagesspiegel, 24. November 2006. Kultur
  5. Tobias Becker, Wolfgang Höbel: "Mitmachshow für Laien. Rimini Protokoll inszenierten den Klassiker 'Wallenstein' ohne Schauspieler, dafür mit Politikern und Soldaten." in: DER SPIEGEL Nr. 53, 28. Dezember 2009, S. 135
  6. Renate Klett: Alle machen mit. Die meisten wissen’s nicht. Sind wir umringt von Raubkopien? Das Theaterkollektiv Rimini Protokoll zeigt die Welt als große Verschwörung. In: DIE ZEIT, 1. März 2003, abgerufen am 3. Juli 2016
  7. Milo Rau: Rimini Protokoll und die Rekonstruktion der Wirklichkeit. Wir alle sind Spezialisten. Neue Zürcher Zeitung, 17. Februar 2004, abgerufen am 3. Juli 2016.
  8. Nachweise zu den meisten Hörspielen im Verzeichnis zu Rimini Protokoll auf der Webseite Hoerspielpark
  9. Wer kocht in der Munitionsfabrik? in FAZ vom 17. Mai 2016, Seite 12
  10. Programmhinweis WDR zur Ursendung
  11. Daten zum Film auf der Seite der Produktionsfirma Gebrüder Beetz (Memento vom 3. Juli 2016 im Internet Archive), abgerufen am 3. Juli 2016.
  12. Katja Baigger: Eine Hommage an die Wirklichkeit, Neue Zürcher Zeitung, 28. Mai 2015, abgerufen am 3. Juli 2016