Renate Heuer (* 12. Januar 1928 in Lüneburg; † 2. April 2014)[1][2] war eine deutsche Germanistin. Sie war Lehrbeauftragte für deutsch-jüdische Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Werdegang

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Renate Heuer besuchte von 1938 bis 1947 die Wilhelm-Raabe-Oberschule in Lüneburg. Sie studierte an der Universität zu Köln Literaturwissenschaften, wo sie 1955 mit einer Dissertation über Wilhelm Raabe promoviert.

Im Anschluss beschäftigt sich Heuer mit einigen Übersetzungen, so von Jewtuschenko aus dem Russischen. Angeregt von der 1959 in Köln gegründeten Sammlung Germania Judaica befasst sie sich mit der Literatur der exilierten deutschsprachigen Juden. Eine erste größere Studie erstellte sie mit der noch zu seinen Lebzeiten begonnenen Werkbiographie des in Zürich lebenden Westfalen Hugo Wolfgang Philipp. Dabei lernte sie weitere, von ihr als Paradigma der Nachkriegsgeschichte empfundenen 'abgebrochenen Lebenswegen' (vgl. ihre Studie von 1997). Bei Recherchen in Israel begegnet sie dem in Wien geborenen Dichter Elazar Benyoëtz, der 1963 nach Berlin reiste, um ein Projekt zur Erinnerung an die 'Jeckes', deutschsprachigen Wurzeln der jüdische Pioniere in Palästina zu initiieren.[3] Daraus wuchs das Projekt der 'Bibliographia Judaica'. „Man wußte damals verzweifelt wenig, verzweifelte aber lieber. Nun wird, was einmal jüdisch-deutsch war, deutsch-jüdisch tradiert und gebucht. Nicht unmöglich, nur schwer zu denken, ist, daß dies, was heute als deutsch-jüdische Literatur großgeschrieben wird, nicht so groß hätte geschrieben werden können, wäre ich 1963 nicht nach Berlin gekommen (...Dass 16 Bänden erscheinen konnten...) ist das Verdienst Renate Heuers, deren Lebenswerk die Bibliographia Judaica geworden ist. Es ist gleichsam das größte Monument, das eine Deutsche aus eigener Verantwortung, unter Einsatz ihrer besten Lebensjahre, dem untergegangenen deutschen Judentum errichtet hat.“[4][5].

Zunächst übersetzte Heuer, u. a. zusammen mit Marie-Luise Kaschnitz, ab 1964 vereinzelte Gedichte von Benyoëtz und publizierte diese in kleineren Zeitungen und Festschriften, die sich vor allem dem 'deutsch-jüdisch' etikettierten Schreiben, z. B. bei Margarete Susman, widmen.[6]

Ab 1971 erfolgte, orientiert an der 'Großen Jüdischen National-Biographie' von Salomon Wininger[7] und durch den Ankauf der 'Steininger-Sammlung' mit über 1 Million Zeitungsausschnitten zu jüdischen Personen und Themen aus mehreren Hundert verschiedenen Publikationen. Unter ihrer Leitung wurde das Material in mehrere genre-spezifische Unterabteilungen aufgefächert und als Mikrofiche-„Dokumentation zur jüdischen Kultur in Deutschland 1840–1940“ veröffentlicht. Aus dem Band 'Abt. 3: Schriftsteller wurde die Grundlage einer Bio-Bibliographie. Mit der Möglichkeit für akademische Lehraufträge und der Einwerbung von DFG-Fördermitteln erfolgte die Etablierung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 1983 gründete sie zusammen mit dem Germanisten Norbert Altenhofer den Archiv Bibliographia Judaica e. V., den sie bis zu ihrem Tod 2014 leitete mit dem Ziel, umfassend den jüdischen Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte von 1750 bis zur Gegenwart zu erfassen.[8] Die genealogisch-biographische Namenskartei und die bibliographische Kartei umfassen derzeit über 45.000 Autoren.[9] Dabei kam es immer wieder zu Disputen, wer in diese Sammlung aufzunehmen sei, insbesondere, wenn diese Person oder deren Angehörige durch Erziehung, Konversion oder politisches Engagement 'Jüdischkeit' als unzulässige Fremdzuschreibung empfanden. Käte Hamburger schrieb dazu am 7. Dezember 1979 „Wenn Sie 'Halbjuden' [10] aufnehmen, so sind Sie sich vielleicht nicht ganz der Tatsache bewußt, daß Sie damit die rassistische Auffassung der Nazis zugrundelegen, die es doch gerade zu eliminieren gilt.“[11] Damit wurde der Herausgeberin klar, dass unbedingt das Verhältnis der aufzunehmenden Personen zum Judentum zu dokumentieren war. Es „zeigte sich bald, dass Lebensläufe von der Geburt bis zum Tod urkundlich belegt werden mussten, wenn verbindlich festgestellt werden sollte, ob Autoren Mitglieder jüdischer Gemeinden geblieben waren oder die Annahme der dominanten Religion als der Preis für den vollen Zugang zur christlich-abendländisch geprägten deutschen Kultur gezahlt hatten.“[12]

Von 1981 bis 1996 erschien das von ihr bearbeitete Verzeichnis jüdischer Autoren deutscher Sprache 'Bibliographia Judaica'. Heuer war auch Herausgeberin des in der Nachfolge zwischen 1992 und 2012 erschienenen Lexikons deutsch-jüdischer Autoren mit 1.300 bio-bibliographischen Artikeln, für die sie ein strenges Gerüst entwickelt hat.[13]

Seit 1995 erschien die von ihr verantwortete Reihe Campus Judaica[14], mit der der jüdische Beitrag zur deutschen Geistes- und Kulturgeschichte in Einzeldarstellungen dokumentiert wird. Diese Reihe war bis 2011 auf 27 Bände angewachsen. Dabei sind es vor allem die sorgfältigen editorischen Leistungen, die ihr Anerkennung verschafften. Dieter Langewiesche bemerkte anlässlich des Börne-Wohl-Briefwechsels: „Die Ausgabe von 1907 (...) ist durchzogen von Auslassungen, viele Briefe präsentiert sie nur bruchstückhaft. Alle Briefe wurden nach den Handschriften transkribiert, die originale Schreibweise (...) wurde beibehalten, Autorenkorrekturen und spätere Eingriffe werden nachgewiesen. Die Anmerkungen erschließen das zeitgenössische Umfeld, in dem die Briefe geschrieben wurden. So wird deutlich, wie stark beider Verkehrskreise jüdisch geprägt waren. Renate Heuer vertieft dies in der Einleitung mit Blick auf das Frankfurter Judentum (...)“[15].

Der frühen Bewertung von Benyoëtz: „Es ist gleichsam das größte Monument, das eine Deutsche aus eigener Verantwortung, unter Einsatz ihrer besten Lebensjahre, dem untergegangenen deutschen Judentum errichtet hat.“[16] folgte am 4. Oktober 2007 die erste und einzige öffentliche Würdigung, in dem sie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet wurde.[17]

Veröffentlichungen

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Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 1, 1992
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Einzelnachweise

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  1. Ludger Heid: Renate Heuer – ein Leben für die deutsch-jüdische Literatur-Geschichte, in: ders.: Renate Heuer. Deutsch-jüdische Literatur-Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hentrich & Hentrich, Berlin 2017, S. 11–43.
  2. Traueranzeige. In: Frankfurter Rundschau vom 12. April 2014 (abgerufen am 13. April 2014). Druckausgabe S. 39.
  3. Heyden, Katharina: Die Bibliographia Judaica als Treffpunkt Scheideweg im Werk von Elazar Benyoetz. In: Michael Bongardt (Hg.): Zugrunde gegangen und hoch in die Jahre gekommen. Gabe zum 80. Geburtstag des Dichters Elazar Benyoëtz. Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, ISBN 3-8260-6513-1, S. 73–98.
  4. Elazar Benyoetz: Ein Teppich, aus Namen geknüpft, zum Gedenken an Michael Landmann aufgerollt. In: Klaus-Jürgen Grundner (Hg.): Exzerpt und Prophetie. Königshausen & Neumann, Würzburg 2001, S. 33–57.
  5. Jan Kühne, Anna Rosa Schlechter: Anthologia Judaica. Zur hebräischen Vorgeschichte der 'Bibliographia Judaica' in Leben und Werk von Elazar Benyoëtz. In: Dieter Burdorf: Archiv Bibliographia Judaica, De Gruyter Oldenbourg, München, Wien 2022, S. 59–76.
  6. Die Übersetzungen erfolgten unter den Pseudonymen 'Rina Heuer' und 'Rina Jagon'. Detaillierte Nachweise finden sich in Elazar Benyoëtz: Vielzeitig. Briefe 1958–2007. Brockmeyer Verlag, Bochum 2009, ISBN 978-3-8196-0687-8, S. 317–318.
  7. Arndt Engelhardt: Arsenale jüdischen Wissens. Zur Entstehungsgeschichte der »Encyclopaedia Judaica«. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, S. 284–285
  8. Dieter Burdorf: Archiv Bibliographia Judaica – Deutschsprachiges Judentum Online. Historische Kontexte und Einführung in die Datenbank. De Gruyter Oldenbourg, München, Wien 2022
  9. Homepage des Archivs Bibliographia Judaica e. V. (Memento vom 18. April 2012 im Internet Archive)
  10. Diese Begrifflichkeit hatte Renate Heuer bei einer Anfrage verwendet.
  11. Annette Wolf: „Bibliografie Judaica“ und Erinnerungskultur. Zu einem Dissens im Briefwechsel zwischen Renate Heuer und Käte Hamburger. In: Dieter Burdorf: Archiv Bibliographia Judaica. De Gruyter Oldenbourg, München, Wien 2022, S. 77–86.
  12. Renate Heuer: Vorwort, in dies.: Archiv Bibliographia Judaica, Bd. 1, S. VII
  13. Karin Schlootz: Erinnerung an Renate Heuer. 1928–2014. In: Dieter Burdorf: Archiv Bibliographia Judaica, De Gruyter Oldenbourg, München, Wien 2022, S. 53–58
  14. Reihenübersicht des Verlags
  15. Dieter Langewiesche: Rezension in Historische Zeitschrift, Bd. 297 (2013), Heft 3, S. 832–833 doi:10.1515/hzhz.2013.0567.
  16. Elazar Benyoëtz: Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Zürich/Hamburg 2001, S. 64.
  17. Pressemitteilung Uni-Frankfurt
Personendaten
NAME Heuer, Renate
KURZBESCHREIBUNG deutsche Germanistin
GEBURTSDATUM 12. Januar 1928
GEBURTSORT Lüneburg
STERBEDATUM 2. April 2014