Die These vom Deutschen Sonderweg, auch Sonderwegsthese genannt, besagt, dass sich die Entwicklung demokratischer Strukturen in Deutschland wesentlich vom europäischen Regelfall unterscheide, der unter anderem von Frankreich und Großbritannien repräsentiert werde. Diese Sonderentwicklung sei aus der Geschichte Deutschlands ableitbar. In der Geschichtswissenschaft ist es strittig, ob es sich dabei wirklich um einen Sonderweg handelt oder nur um einen Eigenweg. Die These vom Sonderweg setze voraus, dass es eine Norm für die historische Entwicklung zur liberalen Demokratie gebe.

Charakteristika

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hans-Ulrich Wehler, der sich im Rahmen der Methodologie der Historischen Sozialwissenschaft eingehend mit der Untersuchung eines deutschen Sonderwegs befasst hat, beschreibt die Entwicklung des preußisch dominierten Deutschen Reiches bis zum Ende der Weimarer Republik als „eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne“. Er greift dabei eine Denkfigur aus dem Kaiserreich auf, nach der Deutschland aufgrund eines spezifischen Sonderwegs den westlichen Gesellschaften überlegen sei und kehrt dieses Bild in sein radikales Gegenteil: Der deutsche Sonderweg ist in Wahrheit Ausdruck eines strukturellen Modernisierungsdefizits und führte letztlich in den Nationalsozialismus.[1]

Mit dem Begriff „Deutscher Sonderweg“ verbindet sich darüber hinaus die Vorstellung, Führungsschichten hätten in Deutschland, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine verfehlte, unflexible und bisweilen anachronistische Politik verfolgt. Diese Politik sei vor allem durch eine antiparlamentarische und antidemokratische Haltung sowie die grundsätzliche Verweigerung und Ablehnung gegenüber vom Volk ausgehenden, liberalen und sozialen Erhebungen gekennzeichnet (Sozialistengesetze), was zu einem vor allem über kulturelle Aspekte definierten, letztlich fehlerhaften Selbstverständnis und einem übersteigerten Nationalgefühl der Deutschen geführt habe. Das sei auf die bereits erwähnte kategorische Ablehnung liberaler und parlamentarischer Bewegungen durch die preußische Führung zurückzuführen, die ihren Machtbereich innerhalb des deutschen Raumes ausdehnen und die Monarchie unbedingt beibehalten wollte. Es war vor allem die Politik Preußens, die die gesamtdeutsche Entwicklung seit 1814/15 prägte.

Den Anfang des Sonderwegs kann man zurückführen zum einen auf die Sonderstellung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Partikularismus im Gegensatz zu den zentralisierten Königreichen England und Frankreich) des Mittelalters und zum anderen auf den aufgeklärten Absolutismus Preußens und Österreichs, der zum Teil Reformen vorwegnahm, die in Frankreich erst durch die Französische Revolution erreicht wurden. Möglicherweise förderte dies in Deutschland die Autoritätsgläubigkeit des Bürgertums.

Eine weitere wichtige Phase in der Entstehung des Deutschen Sonderwegs war die Weimarer Klassik, die eine Alternative zur gewaltsamen bürgerlichen Revolution wie in Frankreich suchte. Johann Wolfgang von Goethe (Minister in Weimar von 1779 bis 1786) und Friedrich Schiller, die in ihrer Jugend (Sturm und Drang) zunächst das „Originalgenie“ verherrlicht hatten, suchten im reiferen Alter angesichts der Auswüchse der Französischen Revolution nach einer Alternative. Diese bestand in einer durch ästhetische Bildung beförderten Hebung der allgemeinen moralischen Gesinnung in Adel und Bürgertum (vgl. Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795). Wie in anderen europäischen Staaten entwickelte sich auch in Deutschland ein Bildungsbürgertum, das Aufstiegschancen für Bürger und Rückzugsgebiet für Adelige darstellte.

Vorstellung vom besonderen Wert Deutschlands: Kultur gegen Zivilisation

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Unterschiede einer spezifisch deutschen Entwicklung zu der seiner westlichen Nachbarn waren andererseits auch als Zeichen für einen besonderen Wert der Deutschen angenommen worden und insofern stark positiv besetzt.

Seit Germaine de Staëls De l’Allemagne (1813) kompensierten viele Deutsche ihre Unterlegenheitsgefühle gegenüber den westlichen Nationalstaaten damit, dass sie sich als „Land der Dichter und Denker“ unter Verweis auf Goethe und Immanuel Kant kulturelle Überlegenheit zuschrieben. Kant hatte dabei den Begriff der Kultur als einer moralischen Lebenshaltung gegen den der an materiellem Wohlbefinden orientierten Zivilisation abgegrenzt. Dabei wurde Kultur als die geistigere, seelisch tiefergehende Form des Zusammenlebens angesehen und der als oberflächlich abgewerteten Zivilisation gegenübergestellt. Besonders zugespitzt vertrat diese Vorstellung während des Ersten Weltkrieges Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen.

Diese Vorstellung ist auch als Abwehr gegen das als Kampfbegriff verwendete Verständnis von Zivilisation gerichtet. Denn in der deutschen Sprache sind viele positive Konnotationen mit Kultur verbunden, die im Französischen und Englischen mit civilisation/civilization verbunden sind, insbesondere die Vorstellung der höchsten Stufe der Entwicklung einer Gesellschaft (so ist oft civilization – etwa in Samuel P. Huntingtons clash of civilizations – mit Kultur zu übersetzen).

Während das (französische) Konzept „Zivilisation“ von der universalen Geltung der Menschenrechte – formuliert in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – ausgeht, betonte das deutsche Konzept der Kultur die Partikularität unterschiedlicher kultureller Lebensäußerungen im verbundenen Nebeneinander gleich existenzberechtigter Einheiten (auch: Föderalismusprinzip). Diese Sichtweise spiegelt die deutsche Situation der extremen Zersplitterung in nichteinheitliche Regionen (Kleinstaaterei) wider, im Gegensatz zum politischen Zentralismus in Frankreich.

Die Logik des Sonderwegs im Selbstverständnis deutscher Selbstvergewisserung drückte sich aus in den „Ideen von 1914“, dem „Versuch der uneingeschränkten Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik“. Die deutschen aristokratischen Eliten sahen sich hierbei ideologisch „eingeklemmt“ zwischen den modernen kapitalistischen Klassengesellschaften Frankreichs und Englands und der zaristischen Autokratie Russlands. Sie beschworen daher „eine alle Klassen einschmelzende, konfliktfreie, harmonische ‚Volksgemeinschaft‘, die – von der kompetenten bildungsbürgerlichen Bürokratie dirigiert und von der starken preußisch-deutschen Militärmonarchie geschützt – in der Feuerprobe des Krieges wie ein Phönix emporsteigen werde.“ (zitiert nach Wehler, 2003, S. 17f.). Der deutsche Adel versuchte sich nach dem unvermeidlichen Verlust tatsächlicher Macht durch die Aufwertung seiner sozialen Rückzugsgebiete (Hochschulen, Verwaltung und Militär) einen Resteinfluss zu bewahren, der zumindest das Fortdauern des gewohnten Lebensstils ermöglichte. Die Idee der „antikapitalistischen, antiliberalen, konfliktfreien ‚Volksgemeinschaft des nationalen Sozialismus‘, welche die Antagonismen der Klassengesellschaft überwinden sollte“ taucht später in radikalisierter Form in der Ideologie des Nationalsozialismus wieder auf.

Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die Vorstellung vom Sonderweg zunehmend negativ verstanden. Während bis 1945 auf eine überlegene Andersartigkeit verwiesen wurde, rückten nun mögliche deutsche Modernisierungsdefizite in den Fokus der Darstellungen.

Beispiele

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Zusammenhang mit einem „Deutschen Sonderweg“ wurden folgende Thesen in die Debatte eingebracht:

Kritik an diesem Konzept

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der neueren wissenschaftlichen Diskussion wird die These vom „deutschen Sonderweg“ überwiegend relativiert oder ganz verneint.[2] Kritikpunkte sind unter anderem:

„[…] daß sich zwar eine unbestreitbare politische Linie von den militant-völkischen und radikal-nationalistischen Bewegungen […] seit dem späten 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus nachzeichnen läßt, daß aber andererseits eine übergreifende Kontinuität vom traditionellen Konservatismus […] bis zu Hitler und seiner Ideologie nicht besteht.“

Hans-Christof Kraus: Altkonservativismus und moderne politische Rechte.[7]

Das große Manko der Sonderwegsthese sind vor allem fehlende transeuropäische Studien unter Einschluss Japans und der USA zu radikalem Nationalismus-Chauvinismus und Militarismus. Erst auf der Grundlage dessen ließe sich ein fundiertes abschließendes Urteil fällen, wobei eine Tendenz heute schon klar erkennbar ist. So steht überdies die Sonderwegsthese mit der „Singularitätsthese“ in engem Zusammenhang.[8]

Siehe auch

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Cornelius Torp, Sven Oliver Müller: Das Bild des deutschen Kaiserreichs im Wandel. In: Cornelius Torp, Sven Oliver Müller (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, S. 9.
  2. Michael Grüttner: Das Dritte Reich. 1933–1939 (= Handbuch der deutschen Geschichte. Band 19). Stuttgart 2014, ISBN 978-3-608-60019-3, S. 39.
  3. Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934). Springer, Berlin 2008, S. 526.
  4. Martin Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, S. 395–397.
  5. Martin Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, S. 400/401.
  6. Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934). Springer, Berlin 2008, S. 527.
  7. Thomas Nipperdey u. a. (Hrsg.): Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Berlin 1993, S. 116.
  8. vgl. Wolfgang Wippermann 1993, S. 207–215.