* Die Sinn-Féin-Mandate werden in Westminster nicht eingenommen.
Die britische Unterhauswahl 2024 fand am 4. Juli 2024 statt. Gewählt wurden 650 Abgeordnete. Der britische Premierminister Rishi Sunak hatte am 22. Mai 2024 die Auflösung des britischen Unterhauses beantragt. Die Wahl führte zu massiven Mandatsverlusten der bisherigen Regierungspartei Conservative Party. Dadurch bedingt konnte die Labour Party, obwohl sie nur geringfügige prozentuale Wählergewinne erzielte, die Zahl ihrer Sitze im Unterhaus mehr als verdoppeln, mit Keir Starmer den neuen britischen Premierminister stellen und die 14-jährige Regierungszeit der Conservative Party beenden.
Die Conservative Party erhielt bei der Unterhauswahl 2019 43,6 % der Stimmen (etwas mehr als bei der Wahl zuvor) und 365 der 650 Abgeordnetensitze. Die Labour Party landete mit 32,6 % der Stimmen (minus 7,7 Prozentpunkte) auf dem zweiten Platz und errang 202 Sitze. Die 2019 neu gegründete Brexit-Partei kam trotz zeitweiliger Umfragehochs von bis zu über 20 Prozent nur auf zwei Prozent der Stimmen. Nach der Wahl bildete Boris Johnson das Kabinett Boris Johnson II.
Nach mehreren Skandalen und dutzenden Rücktritten von Regierungsmitgliedern kündigte Boris Johnson am 7. Juli 2022 seinen Rückzug als Parteichef der Konservativen und als Premierminister an. Letzteres würde er noch bleiben, bis ein Nachfolger im Herbst gewählt sei.[2] Seine Nachfolgerin war seit dem 6. September 2022 die ehemalige Außenministerin Liz Truss. Sie kündigte am 20. Oktober 2022 nach einer Regierungskrise ihren Rücktritt an.[3] Anschließend wurde Rishi Sunak, der zuvor noch parteiintern Truss unterlegen war, am 25. Oktober 2022 zum dritten Premierminister binnen zwei Monaten gewählt.
Historisch einmalig amtierten in diesen sieben Wochen nicht nur drei Premierminister, sondern auch zwei britische Monarchen. Liz Truss wurde noch von der seit siebzig Jahren herrschenden Königin Elisabeth II. († 8. September 2022) ernannt und von Nachfolger König Charles III. aus dem Amt entlassen.
Nachdem seine Partei eine Niederlage in den Kommunalwahlen erlitten hatte und in den Umfragen weit hinter der oppositionellen Labour-Party lag, verkündete Premierminister Rishi Sunak am 22. Mai 2024, dass am 4. Juli 2024 vorgezogene Wahlen stattfinden sollen.[4][5] Für den gewählten Zeitpunkt wurden die verbesserte ökonomische Lage – vor allem bei der Inflation – und Entwicklungen in der Immigrationspolitik genannt.[6] Laut britischem Gesetz hätte die Wahl spätestens am 28. Januar 2025 stattfinden müssen.
Fast achtzig der rund 365 konservativen Unterhaus-Abgeordneten bewarben sich nicht um ihre Wiederwahl. Auch Mitglieder der konservativen Führungsriege hatten das Ende ihrer politischen Karriere bekanntgegeben, obwohl sie als sicher geltende Wahlkreise hatten, darunter Michael Gove, der unter allen fünf konservativen Premierministern ein Ministeramt hatte.[7]
Nach der großen Mehrheit für die Conservative Party bei den Wahlen 2019 konnte diese bei den Kommunalwahlen 2021 noch Gewinne erringen.[8] Später änderte sich die Stimmung und die Labour Party erzielte bei den Kommunalwahlen 2022 deutliche Gewinne.[9] Dies wiederholte sich in den folgenden beiden Jahren; auch die Liberal Democrats erzielten auf Kosten der Konservativen deutliche Zugewinne. Die Liberalen gewannen dabei in zahlreichen Mittelschichtbezirken in Südengland, die traditionell konservativ gewählt hatten.[10][11] Während derselben Zeit mussten die Konservativen mehrere hohe Niederlagen in Nachwahlen zum britischen Unterhaus hinnehmen. Die Labour Party gewann einige traditionell rote Sitze in durch die Arbeiterklasse geprägten Wahlkreisen in Nordengland zurück, die sie 2019 verloren hatte.[12]
First Minister Swinney kritisierte den Wahltermin als Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber Schottland, weil er in der ersten Woche der allgemeinen Schulferien liegt.[17]
Nachdem Mark Drakeford die Welsh Labour Party bei der Parlamentswahl in Wales 2021 zu einer absoluten Mehrheit geführt hatte, trat er im Dezember 2023 zurück, weil er nach weitgehenden Haushaltskürzungen und der Einführung einer Höchstgeschwindigkeit von 20 Meilen pro Stunde in Innenstädten an Zustimmung verloren hatte.[18] Im März folgte ihm Vaughan Gething nach.[19] Dieser war seinerseits in einen Spendenskandal verwickelt.[20] Wales hat bei der Wahl acht Sitze weniger als 2019, einige etablierte Parlamentarier müssen daher um ihre Sitze fürchten.[21]
Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, Steuererleichterungen für Selbstständige, keine Steuererhöhungen
Einführung eines Pflichtdienstes für 18-Jährige, entweder als sozialer Dienst oder im Militär
Steigerung der Militärausgaben bis zum Jahr 2030 auf 2,5 Prozent des BIP
Abwicklung von Asylverfahren außerhalb des Vereinigten Königreichs in Ruanda, Begrenzung der Ausgabe von Einreisevisa
Jährliche Steigerung der National Health Service (NHS)-Ausgaben, Einstellung von 28.000 Ärzten und 92.000 Krankenpflegepersonal in England, sowie 1.000 zusätzlichen Hausärzten in Schottland
Keine Erhöhung der bestehenden Einkommenssteuersätze sowie der Abgaben zur Sozialversicherung und der Mehrwertsteuer
Verkürzung der Wartezeiten im NHS durch 40.000 zusätzliche Termine pro Woche in England, indem das Personal für Wochenend- und Abendarbeit besser bezahlt wird, sowie 160.000 zusätzliche Termine pro Jahr in Schottland
Einrichtung eines Grenzschutzkommandos mit Befugnissen zur Terrorismusbekämpfung, um Schlepperbanden und Menschenschmuggel zu stoppen
Gründung eines staatlichen Unternehmens Great British Energy, mit der Aufgabe des Ausbaus erneuerbarer Energien und der energetischen Sanierung, um Energiekosten zu senken und Arbeitsplätze zu schaffen
Bekämpfung von antisozialen Verhaltensweisen durch Schaffung von 13.000 zusätzlichen Polizeistellen, die in der Nachbarschaftshilfe in England und Wales eingesetzt werden sollen
Einstellung von 6500 Lehrern und Schaffung der Möglichkeit eines kostenfreien Frühstücks an allen Grundschulen in England und Wales
jährliche Investitionen von 40 Milliarden £, um die Umstellung der britischen Wirtschaft auf eine Netto-Null-Treibhausgas-Wirtschaft bis zum Jahr 2040 zu erreichen
Einführung einer Vermögenssteuer auf Vermögen über 10 Millionen Pfund und Erhöhung der Sozialversicherung für Einkommen über 50.270 Pfund
Schaffung von 150.000 neuen Sozialwohnungen pro Jahr, Abschaffung des Kaufrechts und Ermöglichung der Einführung von Mietpreiskontrollen durch die lokalen Behörden
Investitionen in die energetische Sanierung von Häusern, Installation von kohlenstoffarmen Heizsystemen wie Wärmepumpen
Verstaatlichung von Eisenbahnen, Wasserwerken und den fünf großen Energieunternehmen
Investitionen in den NHS, um eine bessere medizinische Versorgung zu erreichen
keine Immigration mehr ins Vereinigte Königreich, mit Ausnahme von besonders qualifizierten Personen
Rückführung von Migranten, die in kleinen Booten den Ärmelkanal überquert haben, nach Frankreich
Verkürzung der Wartelisten des NHS auf Null durch verstärkte Einstellung von Personal und verstärkte Inanspruchnahme privater Gesundheitsdienstleister
Anhebung des Mindestbetrags, ab dem Einkommenssteuer gezahlt werden muss, von 12.570 auf 20.000 Pfund pro Jahr und des Schwellenwerts für den 40%igen Steuersatz von 50.270 auf 70.000 Pfund
Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Energierechnungen und Senkung der Mineralölsteuer
Aufgabe des Ziel einer Netto-Null-Emission von Treibhausgasen
In jedem der 650 Wahlkreise wurde ein Abgeordneter gewählt.
Der Kandidat mit der höchsten Wählerstimmenzahl in jedem Wahlkreis gewinnt (first-past-the-post). Es gibt nur einen Wahlgang. Die Wahlkreisgrenzen waren in Schottland zuletzt im Jahr 2005 angepasst worden und im übrigen Vereinigten Königreich im Jahr 2010. Vor der jetzigen Wahl erfolgte am 29. November 2023 mit dem Inkrafttreten des Parliamentary Constituencies Order 2023 eine Anpassung der Wahlkreise an die geänderten Bevölkerungsverhältnisse.[26] 65 Wahlkreise blieben unverändert (vier davon erhielten neue Namen), und 585 Wahlkreise wurden in ihrem Zuschnitt mehr oder weniger verändert.[27] Dadurch gewann England in der Summe zehn Wahlkreise hinzu, Schottland verlor zwei, Wales verlor acht, und die Zahl der Wahlkreise in Nordirland blieb unverändert.[28]
Seit Dezember 2021 lagen die regierenden Tories in jeder Umfrage hinter den oppositionellen Sozialdemokraten. Labour erreicht spätestens seit der Regierungskrise im Sommer 2022 eine stabile absolute Mehrheit im Parlament, teilweise sogar eine 2/3-Mehrheit. In Umfragen lag Labour bei bis zu 57 %, der Vorsprung lag damit auf einem Rekordwert von über 30 Prozentpunkten vor der Conservative Party.[29]
Die folgende Tabelle zeigt die Umfragen der letzten Wochen. Der Wert der führenden Partei ist farblich hervorgehoben.[30][31][32][33]
Von den 40.426.736 registrierten Wählern gaben 60 % ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung lag damit 7,4 % niedriger als 2019.[41] Verlierer war die Conservative Party, die in England proportional noch stärker als im landesweiten Durchschnitt verlor. Die Konservativen verloren 21,3 % der Stimmen sowie 239 Wahlkreise und gewannen einen einzigen (Leicester East) hinzu. Labour verdoppelte trotz nur minimaler Stimmengewinne annähernd seinen Mandatsanteil auf 348. Die Liberal Democrats konnten ihren Mandatsanteil trotz nur minimaler Stimmengewinne von 6 auf 65 mehr als verzehnfachen. Die Hauptgewinne der Liberaldemokraten lagen im Süden und Südwesten Englands (Somerset, Dorset, Gloucestershire, Oxfordshire, Cambridgeshire usw.). In England lagen alle fünf von Reform UK gewonnenen Wahlkreise. Reform UK-Parteiführer Nigel Farage war erstmals in seinem Wahlkreis Clacton erfolgreich. Auch alle von grünen Parteien gewonnenen vier Wahlkreise lagen in England (North Herefordshire, Waveney Valley, Brighton Pavilion und Bristol Central). Fünf unabhängige Kandidaten wurden gewählt: Iqbal Mohamed im Wahlkreis Dewsbury and Batley, Adnan Hussain im Wahlkreis Blackburn, der Ex-Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn im Londoner Wahlkreis Islington North, Ayoub Khan im Wahlkreis Birmingham Perry Barr und Shockat Adam im Wahlkreis Leicester South.
Von den 4.077.152 in Schottland registrierten Wählern gaben 59 % ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung lag damit 8,4 % niedriger als 2019.[42] Hauptverlierer war die Scottish National Party (SNP), die 15 Prozent der Wählerstimmen und mehr als vier Fünftel ihrer Mandate verlor. Stimmenmäßig und in Bezug auf die Parlamentssitze stärkste Partei wurde die Labour Party, die ihren Stimmenanteil um 16,7 Prozent steigern konnte. Von zuvor nur einem einzigen Parlamentssitz katapultierte sie sich damit auf 37 Sitze. Die Liberal Democrats gewannen bei weitgehend konstantem Stimmenanteil vier Wahlkreise hinzu. Die Konservativen konnten trotz deutlicher Stimmenverluste von 12,4 Prozent ihren Mandatsanteil annähernd behaupten und verloren nur eines ihrer bisher sechs Mandate.
Von den 2.346.279 in Wales registrierten Wählern gaben 56 % ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung lag damit 10,30 % niedriger als 2019.[43] Großer Verlierer in Wales waren die Konservativen, die bei einem Stimmenverlust von 17,9 % alle ihre bisherigen 14 Mandate verloren. Die Labour Party gewann trotz moderater Stimmenverluste fünf Mandate hinzu, die Liberal Democrats eines (die Zahl der Wahlkreise in Wales hatte sich gegenüber 2019 von 40 auf 32 verringert). Plaid Cymru gewann zwei Mandate in zuvor von den Konservativen gehaltenen Gebieten hinzu, hat aber insgesamt wegen des veränderten Wahlkreiszuschnitts trotzdem nach wie vor vier. Reform UK errang trotz des höchsten Stimmenzuwachses von 11,5 % in Wales kein Mandat.
Von den 1.363.961 in Nordirland registrierten Wählern gaben 57 % ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung lag damit 4,50 % niedriger als 2019.[44] Verglichen mit den anderen Landesteilen waren die Verschiebungen bei den Stimmanteilen moderat. An stärksten verlor die Democratic Unionist Party, und damit drei ihrer Mandate an die Ulster Unionist Party, die Traditionalist Unionist Voice und die Alliance Party of Northern Ireland. Die Alliance verlor ihrerseits ihr bisheriges Mandat im Wahlkreis North Down an den unabhängigen Kandidaten Alex Easton, gewann aber dafür den Wahlkreis Lagan Valley hinzu. Sinn Féin hielt die bisherigen sieben Mandate, die sie traditionell im Parlament nicht besetzt, wurde aber aufgrund der Verluste der DUP erstmals bei Unterhauswahlen stärkste Kraft in Nordirland.
Die Wahl endete mit einem Erdrutschsieg der Labour Party, die trotz nur geringfügig gestiegenen Stimmenanteils mit 33,7 Prozent der Wählerstimmen nahezu zwei Drittel der Parlamentsmandate (63,2 Prozent) gewann. Bei der Wahl zeigten sich drastisch die Effekte des britischen einfachen Mehrheitswahlsystems. Nie zuvor gab es eine Unterhauswahl, bei der der Wählerstimmenanteil (popular vote) derartig stark vom gewonnenen Sitzanteil (seat share) differierte. Die Differenz von etwa 30 Prozent zwischen Wählerstimmen- und Mandatsanteil bei der Labour Party war die ausgeprägteste, die es in neueren britischen Parlamentsgeschichte (seit mindestens der Wahl 1918) je gegeben hatte.
Die beiden am stärksten negativ von diesen Effekten betroffenen Parteien waren Reform UK und die Green Party of England and Wales (GPEW). Reform UK gewann mit mehr als vier Millionen Wählerstimmen (14 %) gerade einmal fünf Parlamentsmandate (0,8 %) – genauso viel wie die nordirische DUP mit 172.000 Wählerstimmen gewonnen hatte. Die Grünen Parteien gewannen mit zusammen etwa sieben Prozent der Wählerstimmen vier Mandate (0,6 %). Dementsprechend gehörten Vertreter dieser Parteien zu den ersten, die nach der Wahl eine Reform des Wahlsystems anmahnten. Richard Tice von Reform UK kritisierte das Wahlsystem als „offensichtlich nicht demokratisch und fehlerbehaftet“, und Adrian Ramsay, der Co-Vorsitzende der GPEW forderte „ein faireres System“, um zu gewährleisten, dass „jede Stimme gleich viel zählt“. Die Liberal Democrats, die bei vorangegangenen Wahlen regelmäßig durch das Wahlsystem benachteiligt worden waren, konnten dieses Mal von der Schwäche der Konservativen profitieren und einen Sitzanteil gewinnen, der annähernd ihrem Stimmenanteil entsprach. Trotzdem bezeichnete ihr Vorsitzender Edward Davey das Wahlsystem als „immer noch defekt“ und erklärte, dass sich die Liberal Democrats weiterhin für eine Wahlrechtsreform einsetzen würden.[45]
Am 9. Juli 2024 trat das neu gewählte Unterhaus erstmals zusammen. Auf dem Programm stand die Wahl und Vereidigung des Parlamentssprechers (Speaker of the House of Commons). Der amtierende Sprecher Lindsay Hoyle wurde per Akklamation wiedergewählt. Ab dem 9. Juli begann auch die Vereidigung der Abgeordneten. Für den 17. Juli 2024 ist die Parlamentseröffnung mit der King’s Speech (Thronrede) vor dem Oberhaus vorgesehen, in der dieser das Regierungsprogramm der neuen Regierung verliest.[46]
↑Großbritannien: Labour-Vorsprung auf Tories steigt auf historischen Wert. In: Der Spiegel. 30. September 2022, ISSN2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 2. Juli 2023]).