Ein Atavismus (von lateinisch atavus ‚Urahn‘[1]), veraltet auch Rückschlag, ist das Wiederauftreten von anatomischen Merkmalen bei einem Lebewesen, die bei entfernteren stammesgeschichtlichen Vorfahren ausgebildet waren, bei den unmittelbaren Vorfahren jedoch reduziert wurden, da sie für die gegenwärtige Entwicklungsstufe keinerlei Funktion mehr besitzen.[1] Häufig werden Atavismen daher als Missbildung wahrgenommen. Sie zählen, ebenso wie die Rudimente, zu den klassischen Evolutionsbelegen und können bei allen Lebewesen gleichermaßen auftreten. In einem erweiterten Sinne wird der Begriff auch in der Ethologie für entwicklungsbiologisch ursprüngliche Verhaltensweisen gemeinsamer evolutionärer Vorfahren angewandt. Da es sich um genetisch fixierte Verhaltensweisen handelt, sind ethologische Atavismen zwingend angeboren, nie erlernt.
Weniger bekannt sind Atavismen bei Pflanzen, doch wurden solche bereits im 19. Jahrhundert erforscht.[10] Dazu gehören unter anderem die Pelorienbildung bei Blütenpflanzen, Eschen mit nur ein- oder dreifach gegliederten Blättern (Einblattesche) sowie Kakteen mit auftretenden Blättern.
Grundsätzlich sollten atavistische Formen auch bei Bakterien, Pilzen und Einzellern auftreten. Allerdings sind sie aufgrund der starken Variabilität dieser Lebewesen und teilweise nicht vollständig geklärter Abstammungsverhältnisse schwieriger eindeutig zu identifizieren und von Neubildungen zu unterscheiden.
Die Bildung von Atavismen kann folgende Ursachen haben:[11]
Bei Verhaltensatavismen handelt es sich um angeborene Verhaltensweisen, die im Verlauf der Stammesgeschichte abgelegt wurden. Beispielsweise bauen einzelne Haussperlinge gelegentlich ihre Nester nicht wie üblich, sondern errichten stattdessen Kugelnester, wie sie für ursprüngliche Webervögel charakteristisch sind. Diese atavistischen Kugelnester entstehen nicht durch Nachahmung eines Vorbildes, sondern die Formgebung seines Nistplatzes ist angeboren, der Vogel handelt also rein instinktgesteuert.
Auch das Fight-or-flight-Syndrom des Menschen kann als Verhaltensatavismus gelten, denn dabei treten seine artspezifischen kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten in den Hintergrund zugunsten instinktgesteuerter häufig irrationaler Reaktionen.